Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
aufgeklappt. Gottfried setzte sich, um sich zu sammeln, denn er hatte an diesem Vormittag mehr Aufregung empfunden als während der bewegtesten Monate seines Lebens, und besonders seine Neugierde war noch niemals so angestachelt worden. Als er seine Blicke planlos herumschweifen ließ, wie es Leute tun, die in Nachdenken versunken sind, betrachtete er mechanisch die beiden aufgeschlagenen Seiten des Buches und las, ohne es zu wollen, die Überschrift:
»Kapitel XII.
Von dem erhabenen Wege des heiligen Kreuzes.«
Er nahm das Buch auf. Und wie eine Flammenschrift fesselte ein Satz dieses herrlichen Kapitels seinen Blick:
»Er ist vor euch gewandelt mit seinem Kreuz beladen, und er ist für euch gestorben, damit auch ihr euer Kreuz traget und verlanget, an ihm zu sterben. Gehet, wohin ihr wollt, suchet, soviel ihr möget, ihr werdet keinen erhabeneren und keinen sichereren Weg finden, als ›den Weg des heiligen Kreuzes‹.
Machet und ordnet alles, wie es eurem Verlangen und eurer Einsicht entspricht, und ihr werdet stets aufgerufen werden, Mühsal zu erleiden, ob ihr nun wollet oder nicht, und immer werdet ihr auf das Kreuz stoßen; denn ihr werdet die Schmerzen des Körpers fühlen und die Qualen der Seele erdulden. Wenn ihr von Gott verlassen seid, werden euch die Menschen zu schaffen machen. Und noch mehr: ihr werdet euch oft selbst zur Last sein, und keine Hilfe wird euch gebracht, kein Trost euch zuteil werden; bis es Gott gefallen wird, dem ein Ende zu machen, werdet ihr leiden müssen, denn Gott will, daß ihr leiden lernet ohne Trost, damit ihr euch rückhaltlos seinem Willen unterwerfet, und damit ihr unter der Last der Drangsale demütiger werdet.
»Was für ein Buch!« sagte er und blätterte weiter in dem Kapitel.
Und sein Auge fiel auf die Worte:
»Wenn ihr soweit gekommen seid, die Trübsal als süß zu empfinden und sie zu begehren aus Liebe zu Jesus Christus, dann werdet ihr euch glücklich fühlen, denn dann habt ihr das Paradies in dieser Welt gefunden.«
Betroffen über diese einfachen Worte, die darum gerade so stark wirkten, und ärgerlich, daß er sich von diesem Buche geschlagen fühlte, schloß er es; aber noch auf dem grünen Maroquinleder des Einbands las er in Goldbuchstaben die Mahnung:
»Trachtet nur nach dem, was ewig ist!«
»Und haben sie das hier gefunden?...« fragte er sich. Er brach auf, um ein schönes Exemplar der »Nachahmung Christi« zu besorgen, da er daran dachte, daß Frau de la Chanterie abends ein Kapitel daraus zu lesen pflegte, ging hinunter und trat auf die Straße hinaus. Einige Augenblicke blieb er wenige Schritte vor der Tür stehen, unschlüssig, welchen Weg er nehmen, und überlegend, wo und in welcher Buchhandlung er das Buch kaufen solle; da vernahm er das dumpfe Geräusch des schweren Haustors, das geschlossen wurde.
Wenn man den Charakter dieses alten Hauses recht begriffen hat, wird man verstehen, worin sich die alten Häuser von andern unterscheiden. Als Manon Gottfried am Morgen herunterholen kam, hatte sie ihn, deutlich lächelnd, gefragt, wie er die erste Nacht im Hause de la Chanterie geschlafen habe. Zwei Männer verließen das Haus de la Chanterie. Gottfried folgte, ohne irgendwie spionieren zu wollen, den beiden Männern, die ihn für einen Passanten hielten und in dieser stillen Gegend so laut sprachen, daß er ihrer Unterhaltung folgen konnte. Die beiden Unbekannten gingen die Rue Massillon entlang, an Notre-Dame vorbei und quer über den Platz.
»Na, mein Alter, du siehst, daß es ziemlich leicht war, Geld von ihnen herauszuholen... man muß ihnen zum Munde reden... das ist alles.«
»Aber wir schulden es doch.«
»Wem?«
»Nun, der Dame.«
»Das möchte ich sehen, ob mich die alte Schachtel verklagen würde, ich würde ihr...«
»Du würdest ihr... du würdest ihr zurückzahlen...«
»Du hast recht, denn wenn ich es ihr zurückzahle, würde ich später mehr als heute bekommen...«
»Wäre es nicht besser, wenn wir ihren Rat befolgten und ein Geschäft anfingen?«
»Ach, Unsinn!«
»Sie würde uns doch stille Teilhaber verschaffen, hat sie gesagt.«
»Dann müßte man auch ein anderes Leben anfangen...«
»Das jetzige habe ich bis hierher, man ist doch kein Mensch mehr; wenn man immer benebelt herumläuft...«
»Jawohl; aber der Abbé hat doch neulich den alten Marin im Stiche gelassen und ihm alles abgeschlagen.«
»Ach, der alte Marin wollte eine knifflige Sache unternehmen, wie sie nur Millionäre durchsetzen können.«
In
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