Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
der wenigen Tage ihres Zusammenseins von der Überlegenheit, dem Scharfsinn, der umfassenden Kenntnis und dem bedeutenden Geist der Herren hatte überzeugen können, so kam ihm der Gedanke, daß, wenn sie sich so demütigten, die katholische Religion Geheimnisse in sich bergen müsse, die ihm bisher entgangen waren.
»Schließlich«, sagte er sich, »ist es ja doch die Religion Bossuets, Pascals, Racines, des heiligen Ludwig, Raffaels, Michelangelos, Ximenes', Bayards, du Guesclins, und ich Armseliger kann mich mit diesen Geistern, diesen Staatsmännern, Künstlern, Heerführern doch nicht vergleichen.«
Wenn diese kleinen Einzelheiten nicht wichtige Fingerzeige gäben, wäre es töricht, sich heutzutage damit aufzuhalten; aber sie sind für diese Erzählung unentbehrlich, der unser jetziges Publikum schon schwer genug Glauben schenken wird, und die mit einer fast lächerlich erscheinenden Tatsache beginnt: mit der Herrschaft einer sechzigjährigen Frau über einen jungen, von allem enttäuschten Mann.
»Sie haben nicht gebetet,« sagte Frau de la Chanterie zu Gottfried an der Tür von Notre-Dame, »für niemanden, nicht einmal für die Seelenruhe Ihrer Mutter.«
Gottfried errötete und schwieg.
»Tun Sie mir die Liebe«, sagte Frau de la Chanterie, »gehen Sie in Ihre Wohnung und kommen Sie erst in einer Stunde in den Salon. Wenn Sie mich liebhaben,« fügte sie hinzu, »so werden Sie über ein Kapitel der ›Nachahmung Christi‹ nachdenken, das erste des dritten Buches, das betitelt ist ›Von dem Gespräch mit sich selbst‹.«
Gottfried empfahl sich kühl und ging in seine Wohnung hinauf.
›Der Teufel soll mich holen!‹ sagte er sich, ernstlich in Wut geratend. ›Was wollen sie denn hier von mir? Was für Machenschaften haben sie vor?... Alle Weiber, selbst die frommen, sind gleich schlau; und wenn die gnädige Frau,‹ meinte er, indem er seine Wirtin so nannte, wie die übrigen Pensionäre es taten, ›mich jetzt nicht haben will, so ist das, weil etwas gegen mich angezettelt werden soll.‹
In solchen Gedanken versuchte er, durch sein Fenster in den Salon zu sehen, aber die örtliche Lage gestattete ihm nicht, etwas zu erkennen. Er stieg eine Etage hinab, kehrte aber schnell wieder zurück, denn er überlegte, daß bei den strengen Grundsätzen der Hausbewohner ein Akt der Spionage ihm sofort die Verabschiedung eintragen würde. Die Achtung der fünf Personen einzubüßen, schien ihm ebenso unerträglich, wie wenn er sich öffentlich entehrt sehen würde. Er wartete etwa drei Viertelstunden und beschloß dann, Frau de la Chanterie zu überraschen, indem er vor der angegebenen Zeit erschien. Er erfand eine Lüge, um sich zu rechtfertigen: er wollte sagen, daß seine Uhr nicht richtig gehe, und stellte sie zwanzig Minuten vor. Dann ging er, ohne das leiseste Geräusch zu machen, hinunter. Er gelangte so bis an die Tür des Salons und öffnete sie plötzlich.
Hier sah er einen noch jungen, ziemlich berühmten Mann, einen Dichter, den er häufig in Gesellschaften getroffen hatte, Victor de Vernisset, vor sich, auf ein Knie vor Frau de la Chanterie gesunken und den Saum ihres Kleides küssend. Wäre der Himmel aus Kristall, wie die Alten glaubten, und wäre dieser Himmel krachend zusammengebrochen, so wäre Gottfried davon weniger überrascht worden als von dem Schauspiel, das sich ihm hier bot. Die häßlichsten Gedanken stiegen in ihm auf, und er empfand einen noch fürchterlicheren Stoß, als er bei der ersten sarkastischen Bemerkung, die sich ihm auf die Lippen drängte, Herrn Alain in einer Ecke des Salons wahrnahm, der damit beschäftigt war, Tausendfrankenscheine zu zählen.
Im nächsten Augenblick war Vernisset auf den Beinen, und der gute Alain hielt verdutzt inne. Frau de la Chanterie warf Gottfried einen Blick zu, der ihn erstarren ließ; denn der zweideutige Ausdruck auf dem Gesichte des neuen Gastes war ihm nicht entgangen.
»Der Herr«, sagte sie zu dem jungen Dichter und zeigte auf Gottfried, »gehört zu den Unsrigen ...« »Sie sind sehr glücklich, mein lieber Herr,« sagte Vernisset, »Sie sind gerettet! Gnädige Frau,« wandte er sich dann an Frau de la Chanterie, »und wenn ganz Paris mich so gesehen hätte, so wäre ich glücklich darüber gewesen, nichts kann meine Dankbarkeit gegen Sie wettmachen!... Ich bin Ihnen für alle Zeiten verpflichtet! Ich gehöre Ihnen ganz und gar. Befehlen Sie mir, was es auch sei, und ich werde gehorchen! Meine Erkenntlichkeit wird unbegrenzt
Weitere Kostenlose Bücher