Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
diesem Moment wandten sich die beiden Männer, ihrem Äußern nach Werkmeister, um nach der Place Maubert über den Pont de l'Hôtel-Dieu zu gehen; Gottfried trat beiseite, aber als sie bemerkten, daß er so dicht hinter ihnen war, wechselten sie einen mißtrauischen Blick, und ihr Gesicht verriet, daß sie bedauerten, laut gesprochen zu haben.
In Gedanken hierüber ging er zu einem Buchhändler in der Rue Saint-Jacques und kehrte mit einem sehr kostbaren Exemplar der hesten Ausgabe der »Nachahmung Christi«, die in Frankreich erschienen war, zurück. Als er langsamen Schrittes heimging, um pünktlich zur Essensstunde einzutreffen, rief er sich noch einmal die Empfindungen, die er an diesem Vormittage verspürt hatte, ins Gedächtnis zurück und fühlte sich innerlich aufs köstlichste erquickt. Er war von einer heißen Neugier geplagt, aber seine Neugierde trat zurück vor einem unerklärlichen Verlangen, das ihn zu Frau de la Chanterie hinzog; er empfand ein heftiges Begehren, sich an sie anzuschließen, sich für sie aufzuopfern, ihr zu gefallen, sich ihr Lob zu verdienen; er war von einer platonischen Liebe ergriffen, er ahnte bei ihr eine unerhörte Seelengröße, er wollte ihr Inneres ganz kennenlernen. Er brannte darauf, in die Geheimnisse der Existenz dieser Katholiken von reiner Frömmigkeit einzudringen. Und innerhalb dieses kleinen Kreises der Getreuen verband sich die Erhabenheit des frommen Handelns so vortrefflich mit dem, was die Französin Hohes besitzen kann, daß er beschloß, alles zu tun, um in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Solche Gefühle wären bei einem beschäftigten Pariser sehr flüchtige gewesen; aber Gottfried war, wie man gesehen hat, in der Lage des Schiffbrüchigen, der sich an die gebrechlichsten Planken anklammert, weil er sie für tragfähig hält, und seine Seele war durchfurcht und bereit, jeden Samen in sich aufzunehmen.
Er traf die vier Freunde im Salon, überreichte das Buch Frau de la Chanterie und sagte:
»Ich wollte Sie Ihrer Lektüre heute abend nicht berauben ...«
»Gebe Gott,« erwiderte sie, während sie den prächtigen Band betrachtete, »daß das Ihre letzte verschwenderische Handlung gewesen sein möge!«
Da er sah, daß bei den vier Personen die Kleidung bis ins geringste auf Sauberkeit und Zweckmäßigkeit beschränkt, und daß dieser Grundsatz im Hause auch bis in die kleinsten Einzelheiten durchgeführt war, begriff Gottfried die Bedeutung des so liebenswürdig ausgedrückten Vorwurfs.
»Gnädige Frau,« sagte er, »die Leute, denen Sie heute morgen Ihre Unterstützung gewährt haben, sind schlechte Kerle; ohne es zu wollen, habe ich mit angehört, was sie für Dinge planten, als sie von hier fortgingen; was sie sagten, zeugte von der schwärzesten Undankbarkeit...«
»Das sind die beiden Schlosser aus der Rue Mouffetard,« sagte Frau de la Chanterie zu Herrn Nikolaus, »das gehört in Ihr Ressort...«
»Der Fisch entschlüpft mehr als einmal, bevor er sich fangen läßt«, entgegnete lächelnd Herr Alain. Die völlige Unempfindlichkeit der Frau de la Chanterie bei der Nachricht der sofortigen Undankbarkeit der Leute, denen sie sicher Geld gegeben hatte, setzte Gottfried in Erstaunen und ließ ihn nachdenklich werden.
Das Essen verlief heiter, dank Herrn Alain und dem ehemaligen Gerichtsrat; aber der alte Soldat blieb ernst, traurig und kühl, sein Gesicht trug den unverwischbaren Ausdruck bitteren Kummers und unvertilgbaren Schmerzes. Frau de la Chanterie war gegen alle gleich aufmerksam. Gottfried fühlte sich beobachtet von diesen Leuten, deren Vorsicht ihrer Frömmigkeit gleichkam; seine Eitelkeit ließ ihn ihre Zurückhaltung nachahmen, und er achtete sehr auf seine Worte.
Dieser erste Tag sollte viel bewegter sein als die folgenden. Gottfried, der sich von allen wichtigen Besprechungen ausgeschlossen sah, war genötigt, während mehrerer Morgen- und Abendstunden, die er allein in seiner Wohnung verbrachte, die »Nachahmung Christi« aufzuschlagen, und er studierte das Buch schließlich, wie man ein Buch studiert, wenn man nur ein einziges besitzt und sich in Gefangenschaft befindet. Es geht Einem dann mit einem solchen Buche wie mit einer Frau, mit der man sich zusammen in der Einsamkeit befindet; ebenso wie man dann die Frau hassen oder lieben muß, ebenso läßt man sich entweder ganz von dem Geiste des Verfassers durchdringen, oder man liest keine zehn Zeilen von ihm.
Nun ist es unmöglich, daß man von der »Nachahmung Christi«
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