Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
Regelmäßigkeit gemacht; jetzt aber erhob sie das Haupt und sah Gottfried an, auf den die bezaubernde Süße ihrer Stimme, die, wie man sagen muß, eine himmlische Milde besaß, einen tiefen Eindruck machte. Der gemütskranke junge Mann betrachtete voller Verehrung die wahrhaft ungewöhnliche Erscheinung dieser Frau, deren Antlitz leuchtete. Ein rosiger Hauch hatte sich über ihre wachsbleichen Wangen ergossen, ihr Auge strahlte, ein jugendlicher Geist belebte ihre leichten Runzeln, die ihr einen eigenen Reiz verliehen, und alles an ihr forderte liebevolle Zuneigung heraus. Gottfried ermaß in diesem Moment die Tiefe des Abgrunds, der diese Frau von niedrigen Empfindungen trennte; er sah, daß sie den unzugänglichen Gipfel erreicht hatte, auf den sie von der Religion geführt war, und er war noch zu weltlich gesinnt, als daß er davon nicht stark betroffen worden wäre und nicht gewünscht hätte, in den Graben hinabzusteigen und die schmale Höhe zu erklimmen, auf der Frau de la Chanterie stand, um sich neben sie zu stellen. Während er diese Frau einer eingehenden Prüfung unterwarf, erzählte er ihr von den Enttäuschungen seines Lebens und von allem, was er bei Mongenod nicht hatte sagen können, wo seine Bekenntnisse sich auf die Darlegung seiner Lage beschränkt hatten.
»Armes Kind!...«
Dieser mütterliche Ausruf, der den Lippen der Frau de la Chanterie entschlüpfte, legte sich wie Balsam auf das Herz des jungen Mannes.
»Was kann ich an die Stelle so vieler getäuschter Hoffnungen, so vieler verratener Liebe setzen?« fragte er endlich und sah seine Wirtin an, die nachdenklich geworden war.
»Ich bin hierher gekommen, um nachzudenken und einen Entschluß zu fassen. Ich habe meine Mutter verloren, treten Sie an ihre Stelle ...«
»Werden Sie auch wie ein Sohn gehorchen?...« sagte sie.
»Ja, wenn Sie mir die volle Zuneigung entgegenbringen, der man so gern gehorcht.«
»Also, wir wollen es versuchen«, versetzte sie.
Gottfried streckte die Hand aus, um die Hand seiner Wirtin zu ergreifen, die sie ihm, seine Absicht ahnend, reichte, und führte sie respektvoll an seine Lippen. Frau de la Chanteries Hände waren von wunderbarer Schönheit, ohne Runzeln, weder fett noch mager, so weiß, daß sie den Neid einer jungen Frau erregen konnten, und von einer Form, daß sie ein Bildhauer hätte abbilden mögen. Gottfried bewunderte die Hand, und fand, daß sie zu dem Reiz der Stimme und der himmlischen Bläue der Augen paßte.
»Bleiben Sie!« sagte Frau de la Chanterie, erhob sich und ging in ihr Zimmer.
Gottfried empfand eine heftige Erregung und wußte nicht, was er von ihrem Fortgehen denken sollte; aber sein Erstaunen dauerte nicht lange, denn sie kam mit einem Buch in der Hand zurück.
»Hier, mein liebes Kind , sagte sie, »haben Sie die Vorschriften eines großen Seelenarztes. Wenn die Verhältnisse des alltäglichen Lebens uns das Glück, das wir erwarteten, nicht zuteil werden ließen, dann muß man das Glück in dem höheren Leben suchen, und hier haben Sie den Schlüssel zu dieser neuen Welt. Lesen Sie jeden Abend und jeden Morgen ein Kapitel dieses Buches; aber lesen Sie es mit vollster Aufmerksamkeit, studieren Sie die Worte, als ob es sich um eine fremde Sprache handele ... Nach Verlauf eines Monats werden Sie ein anderer Mensch sein. Seit zwanzig Jahren lese ich täglich ein Kapitel, und meine drei Freunde, die Herren Nikolaus, Alain und Joseph, versäumen das ebensowenig wie das Schlafengehen und Aufstehen; machen Sie es ebenso aus Liebe zu Gott, aus Liebe zu mir«. Sie sprach mit himmlischer Freudigkeit und erhabenem Vertrauen.
Gottfried wandte das Buch um und las auf dem Rücken in Goldbuchstaben: »Die Nachahmung Christi«. Die Einfachheit dieser Frau, ihre kindliche Reinheit, ihre Überzeugung, daß sie ihm eine Wohltat erwiesen habe, verwirrten den Exdandy. Die Haltung und die Freude der Frau de la Chanterie glich vollständig denen einer Frau, die einem Kaufmann, der im Begriff ist, Konkurs anzumelden, hunderttausend Franken darbietet.
»Ich habe mich seiner seit zwanzig Jahren bedient. Gebe Gott, daß das Buch ansteckend wirke! Gehen Sie nun, und kaufen Sie mir ein anderes; es ist jetzt die Zeit, wo Leute zu mir kommen, die nicht gesehen werden dürfen.«
Gottfried empfahl sich der Frau de la Chanterie und ging in sein Zimmer hinauf, wo er das Buch auf den Tisch warf und ausrief: »O die arme gute Frau!...« Das Buch hatte sich wie alle oft gelesenen Bücher an einer Stelle
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