Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
möglich gehalten. Eine Frau in dem Alter, das Frau de la Chanterie zu haben schien, besitzt keine der Schwächen junger Frauen mehr; sie ist eine Freundin, die einem alle weibliche Zartheit entgegenbringt, die die Grazie und Feinheit entfaltet, welche die Natur der Frau für den Mann mitgegeben hat, und die sie nicht mehr verkauft: sie ist abscheulich oder vollkommen; denn alles Verlangen schlummert unter ihrer Oberfläche oder ist abgestorben; und Frau de la Chanterie gehörte zu den Vollkommenen. Sie schien niemals jung gewesen zu sein, ihr Blick erzählte nichts von einer Vergangenheit. Fern davon, Gottfrieds Neugierde zu befriedigen, verdoppelten die immer genauere Bekanntschaft mit diesem erhabenen Charakter und die täglich neuen Entdeckungen sein Verlangen, das frühere Leben dieser Frau kennenzulernen, die ihm wie eine Heilige erschien. Hatte sie jemals geliebt? War sie verheiratet gewesen? War sie Mutter gewesen? Nichts an ihr verriet die alte Jungfer, sie entfaltete alle Reize der Frau von vornehmer Geburt, und man mußte aus ihrer robusten Gesundheit, aus der eigentümlichen Art ihrer Unterhaltung auf ein heiliges Leben und auf eine Unkenntnis des Weltgetriebes schließen. Ausgenommen den heiteren Alain, hatten alle diese Menschen Leiden erfahren; aber selbst Herr Nikolaus schien die Palme des Martyriums Frau de la Chanterie zu reichen, und trotzdem wurde die Erinnerung an ihr Unglück so vollkommen von der katholischen Ergebung und ihrer geheimnisvollen Tätigkeit zurückgedrängt, daß sie immer glücklich zu sein schien.
»Sie bedeuten«, sagte Gottfried eines Tages zu ihr, »das Leben für Ihre Freunde, Sie sind das Band, das sie umschlingt, Sie sind sozusagen die häusliche Leiterin eines großen Werkes; und da wir alle sterblich sind, so frage ich mich, was aus ihrer Vereinigung einmal werden soll ohne Sie ...«
»Das macht ihnen auch Sorge; aber die Vorsehung, der wir auch unsern Buchführer zu verdanken haben, sagte sie lächelnd, »wird schon helfen. Übrigens werde ich mich nach Ersatz umsehen.
»Wird Ihr Buchführer bald seinen Dienst in Ihrem Geschäftshause antreten?« fragte Gottfried lachend.
»Das hängt von ihm ab«, entgegnete sie lächelnd. »Er muß erst wahrhaft gläubig und fromm geworden sein, keinerlei Eigenliebe mehr besitzen, sich nicht um die Reichtümer unseres Hauses bekümmern und daran denken, sich über die kleinlichen gesellschaftlichen Bedenken zu erheben mit den beiden Flügeln, die Gott uns gegeben hat ...«
»Welche sind das ...?«
»Die Einfalt und die Reinheit«, erwiderte Frau de la Chanterie. »Ihre Unkenntnis verrät mir deutlich genug, daß Sie die Lektüre unseres Buches vernachlässigt haben, fuhr sie fort, über die harmlose List lächelnd, mit der sie in Erfahrung gebracht hatte, ob Gottfried in der›Nachahmung Christi‹ las. »Dann aber machen Sie sich die Epistel des heiligen Paulus über die Nächstenliebe zu eigen. Nicht Sie werden uns dienen, sagte sie mit erhabenem Ausdruck, »sondern wir werden Ihnen dienen, und es wird Ihnen erlaubt sein, viel gewaltigere Reichtümer zu sammeln, als je ein König besessen hat; Sie werden sie genießen, wie wir sie genießen; und lassen Sie mich Ihnen sagen, daß die Schätze Aladins, wenn Sie sich an ›Tausendundeine Nacht‹ erinnern, nichts sind im Vergleich mit dem, was wir besitzen ... Daher wissen wir auch seit einem Jahre nicht mehr, wie wir es machen sollen, wir sind nicht ausreichend dafür, wir müssen einen Buchführer haben ...«
Während sie so sprach, beobachtete sie Gottfrieds Gesicht, der nicht wußte, was er von dieser merkwürdigen Eröffnung halten solle; da er sich aber häufig an die Szene erinnerte, die sich zwischen Frau de la Chanterie und der alten Frau Mongenod abgespielt hatte, so verharrte er zwischen Zweifel und Vertrauen.
»Oh, Sie werden sehr glücklich sein«, sagte sie.
Gottfried wurde dermaßen von Neugier verzehrt, daß er sofort beschloß, die Zurückhaltung der vier Freunde zu besiegen und sie über sie selbst auszufragen. Nun war von allen Hausgenossen der Frau de la Chanterie derjenige, zu dem sich Gottfried am meisten hingezogen fühlte, und der am meisten die Sympathie der Leute jeder Klasse zu gewinnen schien, der gute, heitere, harmlose Alain. In welcher Absicht mochte die Vorsehung dieses treuherzige Wesen in dieses Kloster ohne Gelübdezwang geführt haben, dessen Mönche sich einer festgesetzten Regel unterwarfen, mitten in Paris, ganz freiwillig, aber so, als
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