Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
ob sie den strengsten Oberen hätten? Welches Drama, welches Ereignis hatte sie von ihrem weltlichen Wege hinweggeführt, um mitten durch das Elend der Hauptstadt diesen Pfad zu wandeln?
Eines Abends wollte Gottfried seinem Nachbar einen Besuch machen, mit der Absicht, seine Neugierde zu befriedigen, die durch die Unmöglichkeit irgendwelcher Umwälzung in dieser Existenz mehr erregt wurde als durch die gespannte Erwartung bei der Erzählung einer furchtbaren Episode aus dem Leben eines Seeräubers. Bei dem Worte: Herein!, das auf sein diskretes Anklopfen erfolgte, drehte Gottfried den Schlüssel, der immer im Schloß stak, herum und fand Herrn Alain am Feuer sitzend und vor dem Schlafengehen ein Kapitel in der »Nachahmung Christi« lesend, beim Lichte zweier Kerzen, jede mit einem grünen beweglichen Lampenschirm, wie ihn die Whistspieler benutzen, versehen.
Der Biedermann trug ein langes Beinkleid und einen Schlafrock von hellgrauem Flanell und hatte die Füße am Kamin auf einem Kissen, das ebenso wie seine Pantoffeln von Frau de la Chanterie gestickt war. Sein schönes greises Haupt, wie das eines Mönchs mit feinen weißen Haaren schön umkränzt, hob sich scharf von dem dunklen Hintergrunde des Überzugs seines riesigen Lehnsessels ab.
Herr Alain legte behutsam sein an allen vier Ecken stark abgenutztes Buch auf einen kleinen Tisch mit gedrehten Säulen, wies mit der anderen Hand auf einen andern Sessel für seinen jungen Freund und nahm seine Brille ab, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war.
»Sind Sie leidend, daß Sie zu dieser Stunde Ihre Wohnung verlassen?« fragte er Gottfried.
»Verehrter Herr Alain,« erwiderte Gottfried freimütig, »ich bin von einer Neugierde geplagt, die ein einziges Wort von Ihnen sehr unschuldig oder sehr indiskret erscheinen lassen kann; und damit werden Sie genügend beurteilen können, in welchem Sinne ich eine Frage an Sie richten will.«
»Und was ist das für eine Frage? sagte Alain und sah den jungen Mann beinahe boshaft an.
»Was für ein Ereignis hat Sie bestimmt, das Leben, das Sie hier führen, zu wählen? Denn um sich zu einem solchen Verzicht auf jedes Interesse zu entschließen, muß Einem das weltliche Leben zum Ekel geworden sein, oder man muß in ihm eine Wunde empfangen oder vielleicht einen andern verwundet haben.«
»Wie denn, mein Kind,« entgegnete der Greis und verzog seine breiten Lippen zu einem Lächeln, das seinen roten Mund so liebenswürdig machte, wie das nur ein Malergenie erdenken kann, »kann man nicht vom tiefsten Mitleid ergriffen werden beim Anblick des Elends, das die Mauern von Paris umschließen? Bedurfte der heilige Vincent a Paula des Stachels von Gewissensbissen oder verletzter Eitelkeit, um sich der ausgesetzten Kinder zu erbarmen?«
»Das verschließt mir um so mehr den Mund, als wenn jemals ein Geist dem dieses christlichen Helden ähnlich war, dies sicherlich der Ihrige ist«, antwortete Gottfried.
Trotz der Unempfindlichkeit, die das Alter seiner gelblichen, runzeligen Gesichtshaut verliehen hatte, überzog eine tiefe Röte das Antlitz des Greises; denn es sah aus, als ob er dieses Lob provoziert hätte, woran er bei seiner allen bekannten Bescheidenheit nicht gedacht haben konnte. Gottfried wußte recht gut, daß die Hausgenossen der Frau de la Chanterie keinerlei Gefallen an solchem Weihrauch fanden. Trotzdem war die außergewöhnliche Bescheidenheit des guten Alain von diesem Skrupel mehr beunruhigt als ein junges Mädchen von irgendeinem schlimmen Gedanken.
»Wenn ich auch noch sehr weit hinter seiner moralischen Höhe zurückstehe«, bemerkte Herr Alain, »so bin ich ihm wenigstens in meinem äußern ähnlich ...«
Gottfried wollte etwas erwidern, aber er wurde daran durch eine Bewegung des Alten gehindert, dessen Nase in der Tat so knollig wie die des Heiligen war, und dessen Antlitz, ähnlich dem eines alten Weinbergsarbeiters, wie ein Duplikat des gewöhnlichen runden Gesichts des Begründers der Findelhäuser aussah.
»Was mich anlangt, so haben Sie recht,« fuhr er fort; »meine Berufung zu unserm Werke wurde entschieden durch ein Gefühl der Reue, aus Anlaß eines Abenteuers ...«
»Sie, und ein Abenteuer?« rief Gottfried leise aus, den dieses Wort das, was er dem Alten zuerst antworten wollte, vergessen ließ.
»Oh, wahrhaftig, was ich Ihnen erzählen werde, wird Ihnen gewiß als eine Kleinigkeit, als etwas Unerhebliches erscheinen; aber vor dem Richterstuhl des Gewissens steht es anders damit. Wenn
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