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Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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rechnen; wenn sie Missionare zu wilden oder barbarischen Völkern entsendet, so würde sie auch mit größter Freude religiösen Orden die Mission übertragen, die Wilden der Zivilisation bei sich aufzunehmen, um sie zu bekehren; denn jeder Verbrecher ist ein Gottloser, und häufig, ohne es selbst zu wissen. Gottfried sah, daß die fünf Personen dieselben Eigenschaften besaßen, die sie bei ihm forderten; sie alle waren ohne Stolz, ohne Eitelkeit, wahrhaft bescheiden und fromm und ohne die Ansprüche der Scheinheiligen. Solche Tugenden sind ansteckend; er wurde von dem Verlangen ergriffen, es diesen unbekannten Helden gleichzutun, und kam schließlich dazu, mit Begeisterung das Buch, das er anfangs verschmäht hatte, zu studieren. Binnen vierzehn Tagen gestaltete er sein Leben so einfach, wie es eigentlich sein soll, wenn man es von dem hohen Gesichtspunkte aus betrachtet, zu dem die religiöse Gesinnung hinführt. So bekam auch seine Neugierde, die zuerst so weltlicher Art und auf so niedrigen Beweggründen beruhend gewesen war, einen reineren Charakter; er verzichtete zwar noch nicht auf sie, denn es wäre ihm schwer geworden, sein Interesse in bezug auf Frau de la Chanterie fahren zu lassen; aber er bewies dabei, ohne es zu wollen, eine Diskretion, die von den Männern gewürdigt wurde, bei denen der göttliche Geist eine außerordentliche Vertiefung ihrer Fähigkeiten bewirkt hatte, wie das bei allen Frommen der Fall ist. Die Konzentration der moralischen Kräfte verzehnfacht ihre Wirkung, welches System man auch dabei anwenden mag.
    »Unser Freund ist noch nicht bekehrt,« sagte der gute Abbé de Vèze, »aber er verlangt danach, es zu werden...«
    Ein unvorhergesehenes Ereignis beschleunigte die Enthüllung der Geschichte der Frau de la Chanterie für Gottfried, so daß seine hauptsächlichste Wißbegierde schnell befriedigt wurde.
    Paris beschäftigte sich damals mit dem Ausgang eines jener schrecklichen Kriminalprozesse, die in den Annalen unserer Schwurgerichtshöfe einen Markstein bedeuten. Bei diesem Prozeß lenkte sich das Hauptinteresse auf die Verbrecher selbst, die mit ihrer Keckheit, mit ihren, den gewöhnlichen Angeklagten weit überlegenem Geist und ihren zynischen Antworten die Gesellschaft entsetzten. Dabei war nun eins auffällig: keine Zeitung fand Eingang in das Haus de la Chanterie, und Gottfried hörte von der Zurückweisung der von den Verurteilten eingelegten Berufung nur durch seinen Lehrer in der Buchführung, denn der Prozeß selbst war lange vor seinem Einzug bei Frau de la Chanterie verhandelt worden.
    »Begegnen Sie auch«, sagte er zu seinen künftigen Freunden, »solchen fürchterlichen Schurken? Und wenn Sie auf sie treffen, wie verhalten Sie sich zu ihnen?«
    »Zunächst«, sagte Herr Nikolaus, »gibt es keine fürchterlichen Schurken, sondern das sind kranke Naturen, die nach Charenton gehören; aber abgesehen von solchen krankhaften Ausnahmen, sehen wir nur Menschen, die ihre Vernunft nicht zu gebrauchen wissen, und es ist die Mission hilfreicher Männer, ihre Seelen wiederaufzurichten und die Verirrten wieder auf den rechten Weg zu bringen.«
    »Und«, sagte der Abbé de Vèze, »dem Apostel ist alles möglich, er hat Gott für sich...«
    »Wenn man Sie nun zu diesen beiden Verurteilten entsenden würde, könnten Sie bei ihnen etwas ausrichten?«
    »Die Zeit dazu würde mangeln«, bemerkte der gute Alain.
    »Im allgemeinen«, sagte Herr Nikolaus, »wendet man sich an die Religion bei Leuten, die äußerst unbußfertig sind, und verlangt in unzureichender Zeit Wunder. In unsern Händen würden die Leute, von denen Sie sprechen, ganz ausgezeichnete Männer geworden sein, sie besitzen eine ungeheure Energie; aber sobald sie einen Mord begangen haben, ist es nicht mehr möglich, sich mit ihnen zu befassen, die menschliche Gerechtigkeit bemächtigt sich ihrer...
    »Also«, sagte Gottfried, »sind Sie ein Gegner der Todesstrafe?...«
    Herr Nikolaus erhob sich schnell und ging hinaus.
    »Erwähnen Sie niemals die Todesstrafe vor Herrn Nikolaus; er hat in einem Verbrecher, über dessen Hinrichtung er zu wachen hatte, seinen natürlichen Sohn erkannt...«
    »Und er war unschuldig!« bemerkte Herr Joseph.
    In diesem Moment kehrte Frau de la Chanterie, die sich für einige Augenblicke entfernt hatte, in den Salon zurück.
    »Immerhin müssen Sie gestehen,« wandte sich Gottfried an Herrn Joseph, »daß die menschliche Gesellschaft nicht ohne die Todesstrafe bestehen könnte, und daß

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