Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
diejenigen, denen man morgen früh den Hals ab...«
Hier fühlte Gottfried, daß ihm von kräftiger Hand der Mund geschlossen wurde, und der Abbé de Vèze führte Frau de la Chanterie, bleich und wie eine Sterbende, hinaus.
»Was haben Sie getan?...« sagte Herr Joseph zu Gottfried. »Führen Sie ihn fort, Alain!« sagte er und zog die Hand zurück, mit der er Gottfried zum Schweigen gebracht hatte. Dann folgte er dem Abbé de Vèze in das Zimmer der Frau de la Chanterie.
»Kommen Sie,« sagte Alain zu Gottfried, »Sie haben uns gezwungen, Ihnen die Geheimnisse des Lebens der gnädigen Frau anzuvertrauen.«
Nach einigen Minuten befanden sich die beiden Freunde im Zimmer des biederen Alain in gleicher Weise wie gestern, als der Alte dem jungen Manne seine eigene Lebensgeschichte erzählt hatte.
»Nun?« sagte Gottfried, dessen Gesicht Verzweiflung darüber erkennen ließ, daß er die Ursache dessen gewesen war, was man in diesem geheiligten Hause eine Katastrophe nennen konnte.
»Ich warte, bis Manon uns beruhigt hat«, antwortete der gute Alte, der das Geräusch der Schritte des Mädchens auf der Treppe hörte.
»Die gnädige Frau befindet sich wieder wohl, der Herr Abbé hat ihr eingeredet, daß sie das, was gesagt wurde, mißverstanden hat«, berichtete Manon, wobei sie einen beinahe wütenden Blick auf Gottfried warf.
»Oh, mein Gott!« rief der arme junge Mann aus, dem die Tränen in die Augen kamen.
»Setzen Sie sich doch«, sagte Alain und nahm selbst Platz.
Und er machte eine Pause, um sich zu sammeln.
»Ich weiß nicht,« sagte der biedere Alte, »ob ich imstande sein werde, in würdiger Weise die Geschichte eines so grausam geprüften Lebens zu erzählen; Sie werden mich entschuldigen, wenn Sie die Worte eines so schlechten Redners nicht auf der Höhe der Handlungen und Katastrophen finden sollten. Bedenken Sie, daß es schon lange her ist, seitdem ich die Schule verlassen habe, und daß ich das Kind einer Zeit bin, wo man sich mehr mit dem Inhalt als mit dem Ausdruck beschäftigte, einer prosaischen Zeit, wo man die Dinge nur bei ihrem Namen zu nennen verstand.
Gottfried machte eine zustimmende Bewegung, aus der der biedere Alain eine aufrichtige Verehrung entnehmen konnte, und die zu sagen schien ›Ich höre zu.‹
»Sie haben eben gesehen, mein junger Freund,« begann der Alte wieder, »daß Sie unmöglich länger unter uns weilen können, ohne einige der furchtbaren Ereignisse in dem Leben dieser heiligen Frau zu kennen. Es gibt Ansichten, Anspielungen, verhängnisvolle Worte, die in diesem Hause vollkommen verpönt sind, wenn man nicht bei der gnädigen Frau Wunden aufreißen will, deren Schmerzen im Wiederholungsfalle tödlich für sie sein könnten...«
»Oh, mein Gott!« rief Gottfried, »was habe ich nur getan?...«
»Ohne Herrn Joseph, der Ihnen das Wort abschnitt, da er ahnte, daß Sie das verhängnisvolle Instrument der Hinrichtung erwähnen wollten, hätten Sie die arme Frau zu Boden geschmettert... Es ist Zeit, daß Sie alles erfahren, denn Sie werden zu uns gehören, davon sind wir heute alle überzeugt.«
»Frau de la Chanterie«, sagte er nach einer Pause, »stammt von einer der ersten Familien der Niedernormandie ab. Ihr Name war Fräulein Barbe-Philiberte de Champignelles, aus der jüngeren Linie dieses Hauses. Sie war daher dazu bestimmt, den Schleier zu nehmen, wenn sie nicht eine Heirat unter der obligaten Verzichtleistung auf ihre rechtmäßigen Erbansprüche würde machen können, wie das bei armen Familien so üblich war. Nun wollte ein Herr de la Chanterie, dessen Familie im Range tief hinabgesunken war, obwohl sie sich bis auf den Kreuzzug Philipp Augusts zurückdatieren konnte, die ihr gebührende Stellung als alter Adel der Normandie zurückerobern. Dieser Edelmann hatte sich äußerst unwürdig betragen, denn er hatte bei Heereslieferungen für die königliche Armee während des Krieges in Hannover dreihunderttausend Taler beiseite gebracht. Indem er allzusehr auf einen solchen Reichtum, der bei den Unruhen in der Provinz noch gewachsen war, baute, hatte der Sohn in Paris ein für einen Familienvater ziemlich beunruhigendes Leben geführt. Fräulein von Champignelles Verdienste hatten ihr im Lande Bessin eine ziemliche Berühmheit verschafft. Der Alte, dessen kleines Lehnsgut de la Chanterie zwischen Caen und Saint-Lô lag, hörte, wie man es beklagte, daß ein so vortreffliches Fräulein, so geeignet, einen Mann glücklich zu machen, seine Tage in einem
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