Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
eine Welt kennenzulernen, wo man so wenig Bedenken hat, den andern falsch zu beurteilen. Aber es ist bald Mitternacht, und ich habe noch über mein Kapitel der ›Nachahmung Christi‹ nachzudenken. Gute Nacht.«
Gottfried ergriff die Hand des Alten und drückte sie voller Verehrung.
»Können Sie mir auch die Lebensgeschichte der Frau de la Chanterie erzählen?« fragte Gottfried.
»Das ist ohne ihre Einwilligung unmöglich,« erwiderte Alain, »denn sie hängt mit einem der schrecklichsten Ereignisse der kaiserlichen Politik zusammen. Ich habe die gnädige Frau durch meinen Freund Bordin kennengelernt, er kennt alle Geheimnisse dieses edlen Lebens, und er war es, der mich sozusagen in dieses Haus gebracht hat.«
»Wie dem auch sei,« antwortete Gottfried, »ich danke Ihnen jedenfalls dafür, daß Sie mir Ihr Leben erzählt haben, ich kann daraus Lehren für mich schöpfen.«
»Wissen Sie auch, was die Moral davon ist?«
»Sagen Sie es mir,« entgegnete Gottfried, »denn ich könnte etwas anderes daraus schließen als Sie...«
»Also,« sagte der gute Alte, »Genießen ist eine Nebensache in einem christlichen Leben, aber nicht sein Zweck, und das begreifen wir zu spät.«
»Und was gewinnt man, wenn man ein Christ wird?« fragte Gottfried.
»Sehen Sie dorthin!« sagte der Alte.
Und er zeigte mit dem Finger auf eine Inschrift in goldnen Buchstaben auf schwarzem Grunde, die der neue Pensionär noch nicht hatte bemerken können, da er zum ersten Male Alains Zimmer betreten hatte. Gottfried wandte sich um und las: Transire benefaciendo.
»Das ist der Sinn, mein Kind, den man dann dem Leben zu geben hat. Wenn Sie einer der Unseren werden, so wird das Ihre einzige Devise sein. Wir lesen diese Vorschrift, die wir uns selbst gegeben haben, zu jeder Stunde, wenn wir aufstehen, wenn wir uns niederlegen, wenn wir uns ankleiden... Ach! Wenn Sie wüßten, welche unendliche Freude die Erfüllung dieser Regel mit sich bringt!...«
»Wie das?...« sagte Gottfried, in der Hoffnung auf nähere Erklärungen.
»Zunächst sind wir ebenso reich wie der Baron von Nucingen... Aber die ›Nachahmung Christi‹ verbietet uns, etwas für uns zu besitzen; wir sind nur die Verteiler, und wenn wir die geringste Regung von Stolz fühlten, wären wir nicht würdig, die Verteiler zu sein. Das wäre nicht transire benefaciendo, das wäre, in dem Gedanken daran einen Genuß zu empfinden. Wenn Sie sich mit etwas aufgeblähten Nasenflügeln sagen würden: Ich spiele die Rolle der Vorsehung!, wie Sie vielleicht hätten denken können, wenn Sie heute morgen an meiner Stelle gewesen wären, als ich einer Familie das Leben wiederschenkte, so würden Sie ein Sardanapal geworden sein, und zwar ein schlimmer! Keiner von den Herren hier denkt an sich, wenn er Gutes tut, man muß sich jeder Eitelkeit entschlagen, jedes Stolzes, jeder Eigenliebe, und das ist schwer, glauben Sie mir!...«
Gottfried wünschte Herrn Alain gute Nacht und begab sich in sein Zimmer, tief bewegt von Alains Erzählung; aber seine Neugierde war eher erregt als befriedigt, denn die Hauptfigur dieses Interieurs war Frau de la Chanterie. Das Leben dieser Frau erschien ihm so bedeutungsvoll, daß er dessen Erkundung zum Hauptzweck seines Aufenthalts im Hause de la Chanterie machte. Wohl erkannte er bereits in der Vereinigung der fünf Personen eine gewaltige Wohltätigkeitsorganisation; aber er beschäftigte sich in seinen Gedanken viel weniger damit als mit seiner Heldin.
Der Neophyt verbrachte mehrere Tage damit, die auserlesenen Leute, in deren Gesellschaft er sich befand, genauer, als er es bisher getan hatte, zu beobachten, und dabei vollzog sich in seinem Innern ein Phänomen, das die modernen Philantropen, vielleicht aus Unwissenheit, nicht beachtet haben. Die Sphäre, in der er lebte, übte einen positiven Einfluß auf Gottfried aus. Dem Gesetz, dem die physische Natur bezüglich des Einflusses des atmosphärischen Milieus auf die Daseinsbedingungen der in ihr sich entwickelnden Existenzen, unterworfen ist, unterliegt in gleicher Weise auch die sittliche Natur; daraus folgt, daß das Zusammenleben verurteilter Gefangener eins der größten sozialen Verbrechen, ihre Isolierung aber einen Versuch von zweifelhaftem Erfolge darstellt. Die Verurteilten sollten religiösen Instituten übergeben und überreich mit dem Guten versorgt werden, anstatt daß sie inmitten des ausgebreitetsten Bösen verharren müssen. Man kann hierbei auf das opfervollste Entgegenkommen der Kirche
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