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Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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der Tochter abheben; der Tochter, die ihre Mutter täuschte, der Frau, die das Opfer eines Ungeheuers geworden war und das Opfer ihrer Zuneigung zu einem jener kühnen Männer, die man später Helden nannte, und dem die Einbildungskraft Gottfrieds eine Ähnlichkeit mit Leuten wie Charette, Georges Cadoudal, mit den Gewaltigen in dem Kampfe zwischen Republik und Monarchie verlieh.
    Sobald Gottfried den braven Alain sich in seinem Zimmer bewegen hörte, ging er zu ihm; aber als er die Tür geöffnet hatte, kehrte er wieder um. Der Greis kniete auf seinem Betschemel und sprach sein Morgengebet. Der Anblick dieses weißen, in tiefste Andacht versunkenen Hauptes erinnerte Gottfried an seine versäumte Pflicht, und er kniete nieder, um ein heißes Gebet zum Himmel zu richten.
    »Ich erwartete Sie,« sagte der Alte, als er Gottfried eine Viertelstunde später eintreten sah, »ich habe Ihrer Ungeduld Rechnung getragen und bin früher als sonst aufgestanden.«
    »Frau Henriette? ...« fragte Gottfried in sichtlicher Angst.
    »Ist die Tochter der gnädigen Frau,« unterbrach der Alte Gottfried. »Die gnädige Frau nennt sich Lechantre de la Chanterie. Unter dem Kaiserreich wurden weder die Adelstitel noch die dem Familien- oder dem ursprünglichen Namen hinzugesetzten anerkannt. So nannte sich die Baronin des Tours- Minières Frau Bryond. Der Marquis d'Esgrignon nahm wieder den Namen Carol an, er wurde der Bürger Carol und später der Herr Carol. Die Troisvilles wurden die Herren Guibelin.«
    »Und wie lief die Sache aus? Hat der Kaiser sie begnadigt?«
    »Leider nicht!« erwiderte Alain. »Die unselige kleine Frau von einundzwanzig Jahren starb auf dem Schafott. Als der Kaiser die Eingabe Bordins gelesen hatte, antwortete er seinem Justizminister etwa folgendes:
    ›Weshalb soll ich mich um einen Spion bekümmern? Ein Polizeiagent ist kein gewöhnlicher Mensch mehr, er darf auch keine menschlichen Gefühle haben; er ist ein Rad in einer Maschine, Bryond hat nur seine Pflicht getan. Wenn solche Instrumente nicht das wären, was sie sein müssen, Männer von Eisen, die ihren Geist nur im Sinne des Herrn, dem sie dienen, anstrengen, dann wäre jede Regierung unmöglich. Die Urteilssprüche der Sonderstrafgerichte müssen vollzogen werden, sonst würden meine Beamten weder zu ihnen noch zu mir Vertrauen haben.
    Übrigens sind die Söldner dieser Leute hingerichtet worden, und sie waren weniger schuldig als die Anführer. Außerdem muß man den Frauen aus dem Westen zeigen, daß sie sich nicht an Komplotten beteiligen sollen. Gerade weil hier eine Frau durch den Spruch des Gerichts betroffen ist, muß der Gerechtigkeit freier Lauf gelassen werden. Gegenüber dem Staatsinteresse kann es keine Entschuldigung geben. Das war ungefähr der Inhalt dessen, was der Justizminister so freundlich war, Bordin aus seiner Unterredung mit dem Kaiser mitzuteilen. Als er erfuhr, daß Frankreich und Rußland sich bald miteinander messen sollten und daß der Kaiser sich siebenhundert Meilen von Paris entfernen mußte, um ein ungeheures ödes Land anzugreifen, begriff Bordin die wahren Gründe der kaiserlichen Ungnade. Um Ruhe im Westen zu haben, der schon Rebellen genug in sich barg, schien es Napoleon notwendig, starken Schrecken zu verbreiten. Daher riet der Justizminister dem Advokaten auch, nichts weiter für seine Klienten zu versuchen.
    »Und für seine Klientin?« sagte Gottfried.
    »Frau de la Chanterie wurde zu zweiundzwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt,« sagte Alain. »Da sie schon nach Bicêtre, nahe bei Rouen, überführt war, um ihre Strafe zu verbüßen, durfte man sich mit ihr erst befassen, nachdem ihre Henriette scheinbar gerettet war, die nach der schrecklichen Gerichtsverhandlung ihr so ans Herz gewachsen war, daß ohne Bordins Zusicherung, daß er ihre Begnadigung durchsetzen würde, die gnädige Frau die Verurteilung wohl nicht überlebt hätte. Man täuschte also die arme Mutter. Sie sah ihre Tochter noch, nachdem die andern zum Tode Verurteilten schon hingerichtet waren, ohne zu ahnen, daß dieser Aufschub nur ihrer fälschlichen Angabe, sie sei schwanger, zuzuschreiben war.«
    »Ach, nun begreife ich alles!« rief Gottfried.
    »Nein, mein Kind, es gibt Dinge, die man sich nicht vorstellen kann. Die gnädige Frau hat ihre Tochter sehr lange Zeit am Leben geglaubt...«
    »Wie das?«
    »Als Frau des Tours-Minières von Bordin die Abweisung ihres Gnadengesuchs erfuhr, hatte die großherzige kleine Frau den Mut, zwanzig Briefe

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