Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
mit, das, durch die Niederträchtigkeit ihres Gatten in grober Weise betrogen (solche Romane waren damals modern), einen jungen Rebellenführer, der gegen den Kaiser konspirierte, liebt, sich wie Diana Vernon Hals über Kopf in die Verschwörung stürzt, sich dafür begeistert und, einmal auf diese abschüssige Bahn geraten, nicht mehr haltmacht! War sie bis auf das Schafott gekommen?
Gottfried sah eine ganze Welt vor sich. Er irrte in den normännischen Gehölzen umher, er erblickte den bretonischen Chevalier und Frau Bryond hinter den Hecken; er lebte mit im Schlosse Saint-Savin; er wohnte den verschiedenen Szenen bei, in denen so viele Menschen verführt wurden, und sah den Notar, den Kaufmann und alle die kühnen Führer der Chouans leibhaft vor sich. Er ahnte, wie fast das ganze Land daran teilhatte, in dem die Erinnerung an die Anschläge des berüchtigten Marche-à-Terre, der Grafen von Bauvan und Longuy, an das Massaker von la Vivetière, an den Tod des Marquis von Mautauran, von dessen Heldentaten ihm schon Frau de la Chanterie erzählt hatte, fortlebte. Diese Art Vision der Dinge, Menschen und Ortschaften ging schnell vorüber. Da er daran dachte, daß es sich um die bedeutende, vornehme, fromme alte Frau handelte, deren edle Eigenschaften einen solchen Einfluß auf ihn ausübten, daß er im Begriff war, ein anderer Mensch zu werden, so nahm Gottfried voll Schrecken die zweite Schrift, die ihm der biedere Alain gegeben hatte, in die Hand; sie war überschrieben:
»Gnadengesuch für Frau Henriette Bryond des Tours-Minières, geborene Lechantre de la Chanterie.«
»Hier ist kein Zweifel mehr möglich!« sagte sich Gottfried.
Die Schrift lautete:
»Wir sind verurteilt und schuldig; aber wenn jemals ein Souverän Grund gehabt hat, von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen, ist das nicht in der vorliegenden Sache der Fall?
Es handelt sich um eine junge Frau, die erklärt hat, daß sie sich Mutter fühlt, und die zum Tode verurteilt ist.
Auf der Schwelle des Gefängnisses, im Anblick des Schafotts, das sie erwartet, wird diese Frau die reine Wahrheit sagen.
Die Wahrheit wird für sie reden, ihr wird sie die Begnadigung zu verdanken haben.
Der vor dem Strafgerichtshof von Alençon verhandelte Prozeß hat, wie alle Prozesse, bei denen eine große Anzahl Angeklagter in ein gemeinsames Komplott verwickelt ist, das vom Parteigeist angezettelt wurde, ganz unaufgeklärte Teile gezeigt.
Die Kanzlei Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät weiß, was sie heute von der mysteriösen Persönlichkeit des sogenannten Le Marchand zu halten hat, dessen Anwesenheit im Departement l'Orne während der Prozeßverhandlungen vor dem öffentlichen Ankläger nicht geleugnet wurde, den vorzuladen aber die Staatsanwaltschaft sich nicht veranlaßt gesehen hat, während die Verteidigung keine Möglichkeit hatte, ihn vorführen zu lassen, noch ihn überhaupt aufzufinden.
Diese Persönlichkeit ist, wie die Staatsanwaltschaft, die Präfektur, die Pariser Polizei und die Kanzlei Seiner Kaiserlichen und Königlichen Majestät wissen, der Herr Bernhard-Polydor Bryond des Tours-Minières, seit 1794 Korrespondent des Grafen von Lille, im Ausland als Baron des Tours-Minières und in den Annalen der Pariser Polizei unter dem Namen Contenson bekannt.
Das ist ein Ausnahmemensch, ein Mann, dessen Adel und Jugend durch so lasterhafte Neigungen, durch eine so tiefe Immoralität, durch so strafbare Verirrungen befleckt sind, daß dieses elende Dasein sicher schon auf dem Schafott geendet hätte, ohne die Kunst, mit der er sich in einer Doppelrolle, entsprechend seinem doppelten Namen, nützlich zu machen verstand. Aber mehr und mehr von seinen Leidenschaften, von immer neuen Bedürfnissen beherrscht, wird er schließlich noch unter die tiefste Stufe des Lasters sinken und bald bei dessen untersten Ausläufern angelangt sein, trotz seiner unbestreitbaren Begabung und seinem bemerkenswerten Verstande.
Als die Vorsicht des Grafen von Lille Bryond nicht mehr erlaubte, Geld im Auslande zu erheben, wollte er der blutigen Arena, in die ihn seine Geldansprüche hinabgezogen hatten, entrinnen.
War seine Karriere nicht ertragreich genug gewesen? Waren es Gewissensbisse oder die Schande, die diesen Mann in das Land zurückführten, wo seine Besitzungen, die bei seiner Abreise mit Schulden überlastet waren, seinem Genie wenig Hilfsmittel darbieten konnten? Es ist unmöglich, das zu glauben. Es ist wahrscheinlicher, anzunehmen, daß er in den
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