Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
ausgesprochene, ganz deutlich charakterisierte Anfälle von Wasserscheu gehabt. Nicht nur der Anblick, auch das Geräusch von Wasser, das Erblicken eines Glases, einer Tasse versetzte sie in Wut, und dazu hat sie sich auch noch angewöhnt, wie ein Hund zu bellen, so melancholisch zu bellen, wie die Hunde es tun, wenn sie Orgelspielen hören. Mehrmals schon lag sie im Sterben und hat die Letzte Ölung erhalten, und immer lebte sie wieder auf, um bei vollem Verstande und voller Geistesklarheit weiterzuleiden; denn ihr Verstand und ihr Gefühl sind unberührt geblieben ... Sie ist am Leben geblieben, mein Herr, aber sie hat den Tod ihres Mannes und ihrer Mutter herbeigeführt, die diesen Jammer nicht ertragen konnten. Und was ich Ihnen erzählt habe, mein Herr, das ist noch gar nichts. Alle körperlichen Funktionen sind bei ihr ins Gegenteil verkehrt, ein Mediziner allein könnte Ihnen die seltsame, unnatürliche Tätigkeit ihrer Organe erklären ... Und in diesem Zustande mußte ich sie im Jahre 1829 aus der Provinz nach Paris überführen, denn die wenigen berühmten Pariser Ärzte, Desplein, Bianchon und Haudry, glaubten alle, daß man sie mystifizieren wolle. Der Magnetismus wurde damals von den Akademien sehr energisch abgelehnt; und ohne den Provinzärzten und mir selbst den guten Glauben abzusprechen, nahmen sie eine unzureichende Beobachtung, oder, wenn Sie wollen, eine Übertreibung an, wie sie bei Kranken und ihren Familien ziemlich häufig vorkommt. Aber sie sahen sich genötigt, ihre Ansicht aufzugeben, und gerade diese Phänomene gaben den Anlaß für die Untersuchungen der letzten Zeit über Nervenkrankheiten; denn sie hielten diesen merkwürdigen Zustand für eine Neurose. Die letzte Konsultation dieser Herren ergab als Resultat, daß alle Medizin beiseite zu lassen sei; sie erklärten, man müsse die Natur frei walten lassen und ihr Wirken studieren; und seitdem habe ich nur noch einen Arzt, und das ist der Armenarzt dieses Bezirks. Es genügt ja auch in der Tat, Palliativmittel anzuwenden, um die Schmerzen zu lindern, da man die wirkliche Ursache der Krankheit nicht kennt.
Hier stockte der Alte wie vernichtet von dieser entsetzlichen Eröffnung.
»Seit fünf Jahren«, fuhr er dann fort, »lebt meine Tochter zwischen Besserung und beständigen Rückfällen, aber es ist kein neues Phänomen aufgetreten. Sie leidet mehr oder weniger infolge der verschiedenartigen nervösen Anfälle, die ich Ihnen kurz geschildert habe, aber die Unbeweglichkeit der Beine und die Störung der natürlichen Funktionen dauert an. Die Not, in der wir uns befinden und die inzwischen noch schlimmer geworden ist, hat uns gezwungen, die Wohnung, die ich im Jahre 1829 in dem Viertel du Roule gemietet hatte, zu verlassen; und da meine Tochter einen nochmaligen Umzug nicht aushalten würde und ich sie bei einem solchen schon zweimal beinahe verloren hätte: das erstemal, als ich sie nach Paris brachte, und dann, als ich mit ihr aus dem Beaujonviertel fortzog, so habe ich gleich meine jetzige Wohnung genommen, da ich das Unglück voraussah, dessen Hereinbrechen über mich auch nicht lange auf sich warten ließ; denn nach dreißig Dienstjahren hat man mich auf die Regelung meiner Pension bis zum Jahre 1833 warten lassen. Erst seit sechs Monaten erhalte ich sie, und die neue Regierung hat, in Verfolg ihrer sonstigen Härte gegen mich, mir auch nur das Minimum zugebilligt.«
Gottfried machte eine Bewegung des Erstaunens, die eine weitere Aufklärung verlangte; der Alte verstand das auch, denn er antwortete sofort, nicht ohne einen vorwurfsvollen Blick nach oben zu richten: »Ich bin eins von den tausend Opfern der politischen Reaktion. Ich verheimliche einen Namen, der der Gegenstand vieler Rachegedanken ist, und wenn die Lehren der Erfahrung, die eine Generation der anderen hinterläßt, nicht immer wieder verloren sein sollen, so denken Sie daran, junger Mann, daß Sie sich niemals zu harten Maßnahmen irgendeiner Politik hergeben sollen ... Nicht daß ich bereue, meine Pflicht erfüllt zu haben: mein Gewissen ist vollkommen ruhig; aber die heutigen Gebieter haben nicht mehr das Gefühl der Solidarität, die die Regierungen, so verschiedenartig sie auch sein mögen, miteinander verbinden muß; und wenn der Eifer belohnt wird, so geschieht das nur aus einer vorübergehenden Angst. Das Instrument, dessen man sich bedient hat, mag es noch so treue Dienste geleistet haben, gerät früher oder später vollkommen in Vergessenheit. Sie sehen
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