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Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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alt; man würde mich aber für achtzigjährig halten... Alter und Unglück berechtigen Einen zu vielem, da ja auch das Gesetz die Siebzigjährigen von gewissen öffentlichen Pflichten entbindet... Aber ich will Ihnen nicht von dem Recht sprechen, daß mir mein weißes Haar verleiht; es handelt sich hier um Sie. Wissen Sie, daß das Viertel, in dem Sie wohnen wollen, um acht Uhr abends ganz einsam ist und daß man sich dort Gefahren aussetzt, von denen die geringste ist, bestohlen zu werden? Haben Sie auf diese unbewohnten Strecken hier geachtet, auf diese Felder und Gärten?... Sie werden mir antworten, daß ich ja auch hier wohne; aber ich, mein Herr, ich gehe nach sechs Uhr abends nicht mehr aus... Sie werden einwerfen, daß hier ja auch zwei junge Leute in der zweiten Etage wohnen, über den Zimmern, die Sie mieten wollen... Aber, mein Herr, das sind zwei arme junge Schriftsteller, die wegen einer Wechselschuld von ihren Gläubigern verfolgt werden und die sich versteckt halten, frühmorgens fortgehen und erst um Mitternacht nach Hause kommen; die fürchten weder Diebe noch Mörder; außerdem gehen sie immer zusammen und sind bewaffnet... Ich habe ihnen auf der Polizeipräfektur die Erlaubnis verschafft, Waffen zu tragen...«
    »Oh, mein Herr,« sagte Gottfried, »die Diebe fürchte ich aus ähnlichen Gründen, wie sie diese Herren schützen, nicht, und auf das Leben lege ich so wenig wert, daß ich den Mörder, der mich irrtümlich ermordet, segnen würde...«
    »Sie sehen aber doch gar nicht so unglücklich aus«, entgegnete der Alte, der Gottfrieds Äußeres geprüft hatte.
    »Ich besitze höchstens so viel, daß ich leben kann und gerade mein Brot habe, und ich bin hierhergekommen, mein Herr, weil es hier so still ist. Aber darf ich fragen, welches Interesse Sie daran haben, mich von dem Hause fernzuhalten?«
    Der Alte zögerte mit seiner Antwort, da er Frau Vauthier kommen sah; Gottfried, der ihn aufmerksam beobachtete, war erstaunt, wie abgemagert er durch Kummer, vielleicht durch Hunger oder auch durch Arbeit war; Spuren aller dieser Gründe für seine Hinfälligkeit waren auf seinem Gesichte zu erkennen, an dem die vertrocknete Haut sich so eng über die Knochen spannte, als ob sie der glühenden Sonne Afrikas ausgesetzt gewesen wäre. Die hohe Stirn mit ihrem drohenden Ausdruck beschirmte mit ihrer Kuppel zwei stahlblaue Augen, zwei kalte, harte, kluge, vorsichtige Augen, wie die von Wilden, die aber von dunklen, tiefen, ganz runzlichen Ringen umgeben waren. Die gerade, lange, schmale Nase und das stark vorspringende Kinn verliehen dem Alten eine Ähnlichkeit mit dem bekannten, so populär gewordenen Bilde Don Quichotes; aber es war dies ein böser Don Quichote, ohne alle Illusionen, ein schreckenerregender Don Quichote.
    Trotz seines durchaus strengen Wesens ließ der Alte doch etwas von Furcht und Schwäche durchblicken, wie sie die Bedürftigkeit allen Unglücklichen ein flößt. Diese beiden Gefühle gruben gewissermaßen Risse in dieses so festgefügte Antlitz, an dem das zerstörende Beil des Elends schartig geworden zu sein schien. Der Mund hatte einen ernsten, aber beredten Ausdruck. Es war eine Vereinigung Don Quichotes mit dem Präsidenten Montesquieu.
    Seine gesamte Kleidung war aus schwarzem Tuch, aber aus Tuch, das fadenscheinig geworden war. Der altmodische Rock und das Beinkleid wiesen verschiedene ungeschickt ausgeführte Ausbesserungen auf. Die Knöpfe waren kürzlich erneuert worden. Der bis zum Kinn zugeknöpfte Rock ließ die Farbe der Wäsche nicht erkennen, und die Krawatte, deren Schwarz rot geworden war, verbarg geschickt den Hemdkragen. Diese seit langem getragene schwarze Kleidung roch nach Elend. Aber das herrische Wesen des geheimnisvollen Alten, sein Auftreten, die Ideen, die hinter seiner Stirn wohnten und aus seinem Blick sprachen, schlossen den Gedanken an Armut aus. Ein Beobachter würde nicht gewußt haben, zu welcher Klasse er diesen Pariser zählen solle. Herr Bernard erschien so tief in Gedanken verloren, daß er für einen Universitätsprofessor genommen werden konnte, für einen in widerspenstige, quälende Grübeleien versunkenen Gelehrten; Gottfried faßte ein lebhaftes Interesse für ihn und wurde von einer Neugierde ergriffen, die seine Wohltätigkeitsmission noch mehr anstachelte.
    »Wenn ich sicher wäre, mein Herr, daß Sie Ruhe und Zurückgezogenheit suchen, so würde ich Ihnen sagen: Mieten Sie sich neben mir ein«, fuhr der Alte fort. »Mieten Sie diese

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