Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
werden... Aber es gibt wirklich recht merkwürdige Leute! Noch nie habe ich ihren Hund zu Gesicht bekommen. Monatelang, was sage ich, Monate? Sechs Monate lang kriegt man den Hund nicht zu hören! Man möchte glauben, sie haben gar keinen Hund. Das Tier verläßt das Zimmer der Dame nie... Es ist da eine sehr kranke Dame, wissen Sie. Seit ihrem Einzug hat sie ihr Zimmer nicht verlassen... Der alte Herr Bernard arbeitet viel und der Sohn auch. Der ist Externer am Gymnasium Louis le Grand, wo er mit seinen sechzehn Jahren schon bald mit der höchsten Klasse fertig ist! Das ist tüchtig! Aber der kleine Bengel paukt auch wie ein Verrückter!... Sie werden sehen, wie sie Blumen aus dem Zimmer der Dame herausbringen; sie leben nur von Brot, der Großvater und der Enkel, aber sie kaufen Blumen und Leckerbissen für die Dame... Die Dame muß wohl sehr krank sein, daß sie seit ihrem Einzug hier nicht ausgegangen ist; wenn man Herrn Berton hört, den Arzt, der sie behandelt, wird sie hier wohl nur mit den Füßen nach vorn herauskommen.«
»Und was tut der Herr Bernard?«
»Das ist ein Gelehrter, wie es scheint; denn er schreibt und geht auf die Bibliothek arbeiten, und der Herr hat ihm auf das, woran er arbeitet, Geld geborgt.«
»Welcher Herr?«
»Mein Hausbesitzer, Herr Barbet, der frühere Buchhändler, der sechzehn Jahre etabliert war. Der ist aus der Normandie, hat erst auf der Straße Salat verkauft und ist dann 1818 Buchhändler auf den Kais geworden; nachher hat er einen kleinen Laden gehabt, und jetzt ist er sehr reich... Das ist so eine Art Jude, der sechsunddreißig verschiedene Berufe betreibt, denn er war auch mit dem Italiener assoziiert, der die Baracke hier für die Seidenwürmer gebaut hat...«
»Das Haus ist also ein Zufluchtsort für unglückliche Schriftsteller?« sagte Gottfried.
»Sollte der Herr auch das Unglück haben, einer zu sein?« fragte die Witwe Vauthier.
»Ich beginne erst damit«, antwortete Gottfried.
»Oh, mein lieber Herr, erbarmen Sie sich und lassen Sie die Hände davon... Journalist, nun ja, da will ich nicht? dagegen sagen...«
Gottfried konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und wünschte der Portierfrau gute Nacht, die, ohne es zu wissen, ein Musterbild der Bourgeoisie war. Als er sich in dem scheußlichen Zimmer mit seinem Fußboden aus roten Ziegelsteinen, die nicht einmal von gleicher Farbe waren, und mit seiner Tapete zu sieben Sous die Rolle, zu Bett legte, sehnte sich Gottfried nicht nur nach seinem kleinen Zimmer in der Rue Chanoinesse, sondern auch nach der Gesellschaft der Frau de la Chanterie. Er empfand eine große innere Leere. Sein Geist hatte bereits eine andere Richtung genommen, und er erinnerte sich nicht, in seinem früheren Leben eine solche Sehnsucht nach irgendetwas empfunden zu haben. Der schnelle Vergleich machte einen tiefen Eindruck auf sein Gemüt; er begriff, daß kein Leben so viel wert war wie das, mit dem er jetzt beginnen wollte, und sein Entschluß, dem guten Vater Alain nachzueifern, war unerschütterlich geworden. Wenn er noch kein Berufener war, so hatte er doch den Willen, einer zu werden. Am andern Morgen sah Gottfried, der sich bei seiner neuen Lebensweise an sehr frühes Aufstehen gewöhnt hatte, vom Fenster aus einen jungen Menschen von etwa siebzehn Jahren, bekleidet mit einer Bluse, der offenbar aus einem Brunnen Wasser holte, denn er trug in jeder Hand einen Wasserkrug. Auf dem Gesicht dieses jungen Menschen, der sich nicht beobachtet glaubte, spiegelte sich deutlich sein Empfinden, und nie hatte Gottfried etwas so Unschuldiges und gleichzeitig so Trauriges gesehen. Die jugendliche Grazie war von Elend, Arbeit und großer körperlicher Ermüdung überschattet. Der Enkelsohn des Herrn Bernard fiel auf durch einen Teint von ungewöhnlicher Weiße, die von dem dunkelbraunen Haar noch stärker hervorgehoben wurde. Dreimal machte er seinen Weg, beim letztenmal sah er, wie eine Fuhre frisches Holz abgeladen wurde, das Gottfried am Abend vorher bestellt hatte, denn der im Jahre 1838 spät eingetretene Winter begann sich bemerkbar zu machen, und es hatte in der Nacht leicht geschneit.
Nepomuk, der seine Tagesarbeit damit begonnen hatte, das Holz zu holen, das Frau Vauthier sich reichlich hatte vorausbezahlen lassen, plauderte mit dem jungen Menschen, während er wartete, bis der Holzhacker ihm das Holz kleingemacht hatte, das er hinaufbringen sollte. Es war leicht zu merken, daß der plötzlich eingetretene Frost den Enkel des Herrn
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