Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
Zimmer«, sagte er so laut, daß die Vauthier ihn hören konnte, die vorbei kam und in der Tat horchte. »Ich bin Vater, mein Herr, und ich habe nichts mehr auf der Welt als meine Tochter und ihren Sohn, um mir das Elend des Lebens ertragen zu helfen; nun braucht meine Tochter Schweigen und absolute Ruhe ... Alle, die bisher erschienen waren, um die Zimmer, die Sie nehmen wollen, zu mieten, haben den Gründen und Bitten eines verzweifelten Vaters nachgegeben; es war ihnen gleichgültig, ob sie in der einen oder der anderen Straße eines vollkommen öden Viertels wohnen, wo es an billigen Wohnungen nicht mangelt, noch auch an Pensionen zu mäßigen Preisen. Aber ich sehe, daß Ihr Entschluß feststeht, und ich flehe Sie an, mein Herr, täuschen Sie mich nicht; denn sonst wäre ich genötigt, auszuziehen und mich ganz draußen einzumieten ... Aber erstens könnte ein Umzug meiner Tochter das Leben kosten,« sagte er mit erregter Stimme, »und dann, wer weiß, ob die Ärzte, die so schon nach meiner Tochter nur um Gottes willen sehen, auch nach dort hinauskommen würden ...«
Hätte dieser Mann weinen können, so wären seine Wangen bei diesen letzten Worten naß von Tränen gewesen; aber er hatte, nach einem jetzt allgemein üblichen Ausdruck, Tränen in seiner Stimme, und er bedeckte seine Stirn mit einer Hand, die nur noch aus Knochen und Muskeln bestand.
»An welcher Krankheit leidet denn Ihre Frau Tochter?« fragte Gottfried teilnahmsvoll und freundlich. »An einer furchbaren Krankheit, der die Ärzte alle möglichen Namen geben, oder, richtiger gesagt, die überhaupt keinen Namen hat ... Mein Vermögen ist dabei draufgegangen ...« Er fuhr dann mit einer Geste, wie sie nur den Unglücklichen eigen ist, fort: » Das wenige Geld, das ich noch besaß, denn ich war im Jahre 1830 ohne Vermögen und aus meiner hohen Stellung verdrängt – kurz, alles was ich hatte, wurde schnell durch meine Tochter aufgezehrt, die schon ihre Mutter und die Familie ihres Gatten zugrunde gerichtet hatte ... Heute genügt die Pension, die ich beziehe, kaum, um das Nötigste zu bezahlen, das bei dem Zustand, in dem sich meine arme, gottergebene Tochter befindet, erforderlich ist ... Meine Fähigkeit, Tränen zu vergießen, ist erschöpft ... Ich habe unzählige Martern erlitten. Ich muß aus Granit sein, mein Herr, daß ich nicht schon gestorben bin, oder vielmehr: Gott hat dem Kinde den Vater erhalten, damit es einen Wärter und einen Schutzengel habe; denn die Mutter ist vor Kummer gestorben ... Ach, junger Mann, Sie kommen gerade in dem Moment, wo der alte Baum, der sich nie gebeugt hat, fühlt, wie ihm das Beil des Elends, vom Schmerz geschärft, ins Herz dringt ... Ich, der ich niemals geklagt habe, ich will Ihnen von dieser Krankheit erzählen, um Sie zu verhindern, in unser Haus zu ziehen, oder, wenn Sie doch dabei verharren, um Ihnen zu beweisen, wie notwendig es ist, unsere Ruhe nicht zu stören ... In diesem Moment, mein Herr, bellt meine Tochter wie ein Hund Tag und Nacht! ...«
»Ist sie denn geisteskrank?« sagte Gottfried.
»Sie ist vollkommen bei Verstande, sie ist die reine Heilige«, antwortete der Alte. »Sie werden wahrscheinlich gleich denken, daß ich verrückt bin, sobald ich Ihnen alles mitgeteilt habe. Meine einzige Tochter ist das Kind einer Mutter, die sich der vortrefflichsten Gesundheit erfreute. Ich selbst habe in meinem ganzen Leben nur eine Frau geliebt, die meinige; ich hatte sie mir erwählt. Ich habe eine Neigungsheirat gemacht, als ich die Tochter eines der tapfersten Obersten der kaiserlichen Garde, Tarlowskis, eines Polen, heiratete, eines ehemaligen Ordonnanzoffiziers des Kaisers. Das Amt, mit dem ich betraut war, verlangte von mir vollkommene Sittenreinheit; in meinem Herzen haben nicht vielerlei Empfindungen Platz, ich hab' mein Weib treu geliebt, das einer solchen Liebe auch würdig war. Und da ich ein Vater bin, wie ich ein Gatte war, so ist mit diesem einen Worte alles gesagt. Meine Tochter hat ihre Mutter niemals verlassen, und nie hat ein Kind keuscher und christlich frömmer gelebt als dies teure Kind. Sie war mehr als hübsch, sie war eine vollkommene Schönheit; und auch ihr Gatte, ein junger Mann, dessen sittliches Verhalten einwandfrei war – er war der Sohn eines meiner Freunde, eines Präsidenten am Obergericht, – hat sicherlich keinen Anlaß zu der Krankheit meiner Tochter gegeben.
Gottfried und Herr Bernard schwiegen unwillkürlich eine Weile und betrachteten einander
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