Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
schuldig sind... Da ist die Dame, die das Lesekabinett am Sankt-Michaels-Platz hat, die kommt alle drei bis vier Tage wegen ihrer dreißig Franken, und sie hat sie wirklich sehr nötig. Gott im Himmel, was liest die arme kranke Dame zusammen! Sie liest und liest! Und bei zwei Sous für den Band macht das dreißig Franken im Vierteljahr...«
»Das wären ja hundert Bände im Monat!« sagte Gottfried.
»Ah, da holt der Alte die Sahne und das Brötchen für die Dame!« fuhr die Witwe Vauthier fort. »Das ist für ihren Tee, denn sie lebt bloß von Tee, die Dame! Sie trinkt zweimal am Tage welchen und zweimal in der Woche muß sie Süßigkeiten haben... Sie ist so ein Leckermaul! Der Alte kauft ihr Kuchen und Pasteten beim Konditor in der Rue Buci. Oh, wenn es sich um sie handelt, da kommt's ihm nicht drauf an. Er sagt, sie ist seine Tochter!... Als ob man in seinem Alter das, was er macht, für seine Tochter täte!... Er quält sich für sie ab, er und sein August... Denkt der Herr auch so wie ich? Zwanzig Franken würde ich gern springen lassen, wenn ich sie mal sehen könnte. Herr Berton sagt, sie ist ein Monstrum, eine Sache, die man für Geld zeigen könnte. Sie haben gut daran getan, daß sie in ein solches Viertel wie unsres gezogen sind, wo es so menschenleer ist... Gedenkt der Herr also sein Diner bei der Frau Machillot einzunehmen?«
»Jawohl, ich wollte mich bei ihr abonnieren...«
»Ich möchte Sie ja nicht davon abbringen, lieber Herr; aber eine Kneipe ist wie die andere, und da täten Sie besser, in der Rue de Tournon zu essen; da brauchen Sie sich nicht auf einen Monat zu binden, und für gewöhnlich ist's da besser...
»Wo ist das in der Rue de Tournon?«
»Bei dem Nachfolger der Mutter Girard... Da gehen die Herren hier oben häufig hin, und sie sind so zufrieden, wie man es nur sein kann«.
»Schön, Mutter Vauthier, ich werde Ihrem Rat folgen und dort essen ...«
»Mein lieber Herr,« sagte die Portiersfrau, durch die freundliche Haltung, die Gottfried ihr mit Absicht bezeigte, ermutigt, »ernsthaft gesprochen, sollten Sie wirklich auf den Leim gehen und Herrn Bernards Schulden bezahlen wollen?... Das würde mir sehr leid tun; bedenken Sie doch, mein guter Herr Gottfried, daß er beinahe siebzig Jahr alt ist, und wenn er tot ist, ja Prosit, dann ist es alle mit der Pension! Und wer wird Ihnen dann Ihr Geld wiedergeben?... Die jungen Leute sind so unvorsichtig! Wissen Sie auch, daß er mehr als tausend Taler schuldig sein muß?«
»Wem denn?« fragte Gottfried.
»Ach, wem? Das geht mich nichts an«, erwiderte die Vauthier geheimnisvoll; »genug, er schuldet sie, und unter uns gesagt, er verkehrt ja mit niemandem, und daher wird er in unserm Viertel auch nicht für einen Heller Kredit bekommen...«
»Tausend Taler?« wiederholte Gottfried; »oh, da können Sie ganz beruhigt sein, wenn ich tausend Taler hätte, wäre ich nicht Ihr Mieter. Aber, sehen Sie, ich kann es nicht mit ansehen, wenn andere leiden, und für die paar hundert Franken, die mich das kosten kann, werde ich wenigstens wissen, daß mein Nachbar – ein Mann mit weißen Haaren! –- Brot und Holz hat... Was wollen Sie, man verliert häufig so viel beim Kartenspiel... Aber dreitausend Franken? Mein Gott, wo denken Sie hin!«.
Durch die gespielte Offenherzigkeit Gottfrieds getäuscht, verzog die Mutter Vauthier ihr Gesicht zu einem süßlichen Lächeln der Befriedigung, das den Verdacht des Mieters bestärkte. Gottfried war überzeugt, daß die Alte an einem Komplott beteiligt war, das gegen den armen Herrn Bernard geschmiedet wurde.
»Es ist doch merkwürdig, mein Herr, was für Einbildungen man sich in den Kopf setzt! Sie werden mir sagen, daß ich sehr neugierig bin! Aber als ich Sie gestern hier mit Herrn Bernard plaudern sah, habe ich mir eingeredet, daß Sie Angestellter in einer Buchhandlung sind; denn das ist hier das Quartier der Buchhändler. Ich hatte hier einen Korrektor zu wohnen, dessen Druckerei in der Rue Vaugirard war, und der hieß ebensowie Sie...«
»Was interessiert Sie denn mein Beruf?« sagte Gottfried.
»Na, ob Sie mir's nun sagen wollen oder nicht, begann die Vauthier wieder, »ich werde es doch erfahren... Da ist zum Beispiel der Herr Bernard. Nun, anderthalb Jahre habe ich nichts über ihn erfahren können; aber einen Monat darauf habe ich doch endlich herausbekommen, daß er ein Beamter, ein Richter oder sonst so was bei der Justiz gewesen ist, und daß er jetzt darüber schreibt... Was hat er nun
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