Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
dadurch nur noch höher geschraubt; seine Wohltätigkeitsmission war nur noch ein Vorwand, sein Ziel war, die Kranke zu Gesicht zu bekommen. Er konnte nicht glauben, daß ein Wesen mit solch einer Stimme ein Gegenstand des Widerwillens sein könne.
»Sie machen sich wirklich zuviel Mühe, Papa«, sagte die Stimme. »Warum nehmen Sie sich nicht mehr Dienstboten?... Bei Ihren Jahren!... Mein Gott!«
»Du weißt doch, liebe Wanda, ich will nicht, daß andere dich bedienen als dein Sohn und ich!«
Diese beiden Sätze, die Gottfried durch die Tür vernahm oder vielmehr sich zusammendachte, denn eine Portiere dämpfte den Ton, ließen ihn die Wahrheit ahnen. Die von Luxus umgebene Kranke konnte keine Ahnung von der wirklichen Lage ihres Vaters und ihres Sohnes haben. Herrn Bernards seidener Hausrock, die Blumen und seine Unterredung mit Cartier hatten bereits den Verdacht Gottfrieds erregt, der nun wie gebannt vor diesem Übermaß väterlicher Liebe dastand. Der Kontrast zwischen dem Zimmer der Kranken, wie er es sich vorstellte, und dem übrigen war ja auch erstaunlich. Man mache sich nur ein Bild davon.
Durch die Tür des dritten Zimmers, das der Alte offen gelassen hatte, bemerkte Gottfried zwei gleiche hölzerne angestrichene Bettstellen, wie man solche in Pensionen unterster Sorte findet, die mit einem Strohsack, einer dünnen Matratze und nur einer Bettdecke versehen waren. Ein kleiner gußeiserner Ofen von der Art, wie sie die Portiers zum Kochen verwenden, und vor dem eine Menge Torfklumpen lagen, hätte die Not des Herrn Bernard genügend bewiesen, auch ohne die anderen Einzelheiten, die völlig zu diesem scheußlichen Ofen paßten.
Als er einen Schritt weiter machte, erblickte Gottfried Geschirr, wie man es nur in den ärmsten Haushaltungen findet; glasierte irdene Näpfe, worin Kartoffeln in schmutzigem Wasser schwammen. Zwei Tische aus schwarz gewordenem Holz, die, mit Papieren und Büchern beladen, am Fenster standen, das nach der Rue Notre-Dame hinaus ging, zeugten von den nächtlichen Arbeiten des Großvaters und des Enkels. Zwei schmiedeeiserne Leuchter, wie arme Leute sie haben, standen auf den Tischen und waren mit den billigsten Kerzen, von denen acht auf das Pfund gehen, versehen.
Auf einem dritten, der als Küchentisch diente, glänzten zwei Kuverts und ein kleiner silbervergoldeter Löffel, Teller, ein Topf, Tassen aus Sèvresporzellan, ein vergoldetes Messer mit zwei stählernen Klingen in seinem Etui und das übrige Eßgeschirr der Kranken.
Der Ofen brannte, das Wasser in dem Kessel dampfte schwach. Ein angestrichener Wandschrank enthielt jedenfalls die Wäsche und die Kleider der Tochter des Herrn Bernard; denn auf dem Bette des Vaters lag der Anzug, den Gottfried am Abend vorher bei ihm gesehen hatte, und zwar quergelegt, um als Fußwärmer zu dienen.
Andere Kleidungsstücke, die in gleicher Weise auf dem Bett des Enkels lagen, ließen annehmen, daß das ihre gesamte Garderobe war. Der sicherlich selten gereinigte Fußboden sah aus wie der der Schulklassen in Pensionaten. Ein angeschnittenes Sechspfundbrot lag auf einem Brett oberhalb des Tisches. Das Ganze war ein Bild des Elends auf seiner untersten Stufe, eines ganz planmäßig organisierten Elends, das man mit kühler Überlegung zu ertragen entschlossen ist, des abgehetzten Elends, daß trotz guten Willens, das Nötige zu tun, doch nicht alles im Hause zu tun vermag und daher von dem elenden Hausrat einen verkehrten Gebrauch macht. Dieser selten gereinigte Raum strömte einen scharfen ekelerregenden Geruch aus.
Das Vorzimmer, in dem sich Gottfried befand, war wenigstens anständig gehalten; er dachte sich, daß es dazu diente, die Scheußlichkeit des Zimmers, in dem der Enkelsohn und der Großvater hausten, zu kaschieren. Dieses Vorzimmer mit seiner schottisch karierten Tapete enthielt vier Stühle aus Nußbaumholz und einen kleinen Tisch; an den Wänden hingen bunte Stiche: ein Porträt des Kaisers von Horace Vernet, eins Ludwigs XVII. und dann die Karls X. und des Fürsten Poniatowski, jedenfalls eines Freundes des Schwiegervaters Bernards. Das Fenster hatte Kattunvorhänge mit roten Säumen und Fransen.
Gottfried, der auf Nepomuk aufpaßte und hörte, wie er eine Tracht Holz heraufbrachte, machte ihm ein Zeichen, daß er sie ohne Geräusch in Herrn Bernards Vorzimmer hinlegen solle, und mit einer Vorsorge, die anzeigte, daß der Neophyt schon einige Fortschritte gemacht hatte, schloß er die Tür des Hundeloches, damit der
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