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Kein Augenblick zu früh (German Edition)

Kein Augenblick zu früh (German Edition)

Titel: Kein Augenblick zu früh (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Alderson
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am See aufgenommen worden. Fröhlich grinsten wir in die Kamera und ahnten natürlich nicht, was die Zukunft für uns bereithielt. Sanft fuhr ich mit den Fingerspitzen die Konturen von Jacks Gesicht nach. Das war der Sommer gewesen, in dem ich den beiden Jungen quer über den See hinterherschwimmen wollte und dabei fast ertrunken wäre. Mit vereinten Kräften hatten Jack und Alex mich wieder ans Ufer geschleppt. Wie immer, wenn Jack mich bei irgendeiner Sache schlug oder etwas besser konnte als ich, keimte die alte Frustration in mir auf. Aber dieses Mal wurde sie von einem anderen Gefühl verdrängt: Trotz.
    Du glaubst, nur weil ich ein Mädchen bin, kann ich es nicht mit dir und Alex aufnehmen?, dachte ich. Dir werde ich es schon noch zeigen.
    Dann glitten meine Finger weiter zum dreizehnjährigen Alex. Sein Haar glänzte nass und seine leuchtend blauen Augen waren gegen die Sonne leicht zugekniffen. Er grinste breit in die Kamera, den einen Arm um meine knochigen Schultern gelegt, den anderen um Jacks Hals. Ich selber, damals acht, blickte nicht in die Kamera, sondern zu Alex auf, mit einem Ausdruck im Gesicht, den man nur als eine Art Ehrfurcht bezeichnen konnte. Die Art von Ehrfurcht, die man sonst bei Heiligen in mittelalterlichen Bildern zu sehen bekommt, wenn sie voller Inbrunst zu ihrem Gott aufschauen. Megapeinlich.
    Ich trat wieder ans Fenster, schob den Vorhang ein wenig zurück und sah hinaus. Die Männer im ersten Auto registrierten die Bewegung und drehten sich wie Roboter um. Wir starrten uns ein paar Sekunden lang an, dann ließ ich den Vorhang wieder zurückfallen.
    Richard Stirlings Worte klangen mir noch in den Ohren. Der Mann hatte meine Familie auseinandergerissen und drohte uns nun noch Schlimmeres an. Ich atmete tief durch. Dieses Mal würde ich es nicht zulassen. Ich hatte es satt, zu fliehen und gejagt zu werden. Und ich wollte nicht mehr verheimlichen müssen, wer ich war. Hatte genug davon, das Opfer zu sein, das kleine Kind, das immer von anderen gerettet werden musste. Schon lange spürte ich eine brennende Wut in mir – und mit seinen Drohungen hatte Richard Stirling es geschafft, sie zu einer Feuersbrunst anzufachen. Nicht die Art Wut, bei der ich die Kontrolle verlor, sodass Kekse über den Tisch kullerten oder Bojen übers Meer jagten. Diese neue Wut war intensiv und konzentriert wie ein Scharfschütze, der ein Ziel anvisiert.
    Richard Stirling mochte mich für eine Siebzehnjährige halten, die zu ängstlich war, sich zu wehren, die sich einfach einschüchtern ließ. Doch genau da lag sein Irrtum. Nicht mal die gesamte verdammte Armee der Vereinigten Staaten würde ihn davor bewahren können, von mir in den Hintern getreten zu werden. Mit Gusto. Und ich hatte nicht vor, ihn vorher höflich zu warnen. Nein – ich würde einfach zutreten.
    Ich lief nach oben in mein Zimmer und stellte mich vor den Spiegel. Meergrüne Augen blickten zurück; Nasenrücken und Stirn waren leicht gebräunt von der mexikanischen Sonne. Ich sah aus wie immer, aber doch nicht ganz. Etwas hatte sich verändert, aber zuerst kam ich nicht darauf, was es war. Es lag nicht am kurzen Haarschnitt. Ich sah auch nicht besonders müde oder angespannt oder älter aus. Sondern anders . Vielleicht trug ich das Kinn ein bisschen höher so wie Jack, wenn er seinen Kopf durchsetzen wollte. Nein, das war es – der Ausdruck in meinen Augen. Noch vor Kurzem hatte ich einen leicht fieberhaften, gehetzten Blick gehabt. Nun war mein Blick still. Vollkommen ruhig und klar wie ein See bei Windstille.
    Vor einer halben Stunde war ich völlig aufgewühlt gewesen. Jetzt fühlte ich mich stark und zuversichtlich. Die Angst war verschwunden. Meine Gedanken konnten sich frei entfalten. Höchste Zeit, dass ich die Person wurde, die ich wirklich war. Ich holte tief Luft: Höchste Zeit, mit dem Üben anzufangen.
    Ich setzte mich aufs Bett und stellte mir das Radiogerät auf dem Fenstersims in der Küche vor. Konzentrierte mich auf den Lautstärkeknopf. Sekunden später dröhnten Schlagzeug und E-Bass durch das Haus. Ich hörte Dads Schritte in Richtung Küche, dann brach die Musik ab. Ich grinste vor mich hin, die Sache begann mir Spaß zu machen. Ich blickte mich um. Womit konnte ich noch üben? Die Dusche? Sofort begann das Wasser im Badezimmer zu rauschen; das Geräusch echote durch das stille Haus.
    »Lila?«, rief mein Vater die Treppe herauf.
    »Ich dusche gerade«, rief ich zurück.
    Mit geschlossenen Augen ließ ich die

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