Kein Augenblick zu früh (German Edition)
Boden schweben, sodass ihre Finger fast die Fliesen berührten.
»Sei vorsichtig«, mahnte mich Dad.
Wie benommen blickte ich mich nach ihm um. Er hielt meine Mutter fest in den Armen. Ich nickte ihm beruhigend zu und er lächelte zurück. Dann folgte er Harvey zum Ausgang.
Kurz nachdem sie verschwunden waren, kam jemand anderes durch die Haupttür in die Halle. Fast wie ein Geist, mit flammend rotem Haar, engen schwarzen Jeans und schwarzem Sweater: Amber. Sie blieb direkt vor Richard Stirling stehen.
»Was willst du hier, Amber?«, fragte Demos leise.
»Ich will den Mann sehen, der hinter der Einheit steht und schuld an allem ist«, antwortete sie, ohne den Blick von Stirlings Gesicht abzuwenden. »Was hast du mit ihm vor?«
»Wir nehmen ihn mit und übergeben ihn der Polizei.«
Sie fuhr herum. »Und das ist alles? Das ist also deine große Rache? Nach allem, was er getan hat? Das verstehst du unter Gerechtigkeit?«
»Amber«, sagte Alex besänftigend, »darüber haben wir doch gesprochen. Die werden ihn vernichten.«
Sie sah ihn nur mitleidig an, als habe er keine Ahnung, wovon er redete. »Das reicht mir nicht.« Sie drehte sich Hilfe suchend zu mir und mir stockte der Atem. Ich konnte ihr nicht widersprechen, denn ich stand auf ihrer Seite. Auch ich wollte Rache. Es wäre ein Leichtes, Alex’ Arm mit der Pistole hochzuzwingen, bis sie auf Stirlings Brust zielte, und abzufeuern. Nur ein einziger Schuss, mehr war nicht nötig. Der geringste Druck, der von meinen Gedanken ausging, würde genügen. Alles Unglück, alle Schmerzen, die der Verbrecher Richard Stirling jahrelang verursacht hatte, würde durch einen einzigen Gedanken geahndet.
Unsere Blicke trafen sich – Ambers graue Augen schwammen in Tränen. Ich konnte es tun, für sie, für Ryder, für meine Mum, für Thomas.
Dann spürte ich Alex’ Hand an meinem Arm, eine sanfte, leise Berührung. Er wusste genau, was in mir vorging. Er hielt mich nicht davon ab, er überließ die Entscheidung mir allein. Doch seine Berührung wirkte wie immer. Sie brachte mich ins innere Gleichgewicht. Ich wusste plötzlich wieder, wer ich war – und was ich war. Ich würde nicht zulassen, dass mein Hass auf Stirling mich in ein Scheusal verwandelte. Ich wollte nicht mein Leben lang von Schuldgefühlen geplagt werden.
»Amber«, sagte ich, »er ist es nicht wert. Wir haben ihn besiegt.«
Ihre Augen blitzten wütend, als hätte ich sie verraten. Mit bebenden Lippen drehte sie sich wieder zu Stirling und schaute ihm lange in das starre Gesicht. Einen Moment lang glaubte ich, sie würde ihn erschießen. Die Pistole zitterte in ihrer Hand. Würde Demos sie davon abhalten? Aber er schien vollauf damit beschäftigt zu sein, Stirling und seinen Bodyguard unter Kontrolle zu halten. Ich überlegte, ob ich ihr die Waffe aus der Hand schleudern sollte, aber es war nicht mehr nötig. Amber ließ die Pistole sinken.
Jack war sofort bei ihr, legte ihr den Arm um die Schultern und flüsterte ihr etwas zu. Sie brach fast in seinen Armen zusammen. Er hielt sie fest, bis ihr Schluchzen verstummte, dann kam Alicia und führte sie aus der Halle ins Freie.
»Lila«, fragte Demos noch einmal, »bist du bereit?«
Ich nickte. »Ja. Aber du solltest jetzt gehen, Demos.«
»Ich warte, bis alle anderen draußen sind.«
Ich wollte widersprechen, aber Alex zog mich mit sich.
»Wohin?«, fragte ich, als wir durch die Halle rannten.
»Zweiter Stock. Dort sind die Labors und der Server.«
Jack holte uns beim Lift ein.
»Ich glaube nicht, dass es für euch beide sicher ist, wenn ihr bei mir bleibt«, sagte ich, als sich die Lifttür öffnete.
»Warum nicht?« Alex hob spöttisch eine Augenbraue. »Das Risiko müssen wir eingehen.« Er schob mich in den Lift. So zwischen den beiden, wenn ich ihre Nähe spürte, fühlte ich mich sicher. So wollte ich immer sein. Plötzlich wurde ich von der düsteren Vorahnung überwältigt, dass wir zum letzten Mal alle zusammen waren.
Die Lifttür ging auf und ich fegte den Gedanken beiseite. Wir waren so weit gekommen – praktisch schon auf der Zielgeraden. Wir mussten es schaffen. Ich musste es schaffen. Wir jagten einen langen Korridor entlang, an einem Dutzend Glasfenster vorbei, durch die man in die Labors blicken konnte: Arbeitsflächen aus rostfreiem Stahl, Reihen von Computermonitoren und futuristisch anmutende Apparate, einer sah wie ein Röntgengerät, ein anderer wie ein Kernspintomograph aus. Beim letzten Raum rechts erschrak ich: Er
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