Kein Entkommen
eine ganze Menge Tagungen städtischer Ausschüsse per Live-Feed im Internet mitverfolgen. Warum also noch einen Reporter hinschicken? Wieso überhaupt noch einen fest angestellten Redakteur dafür bezahlen? Warum nicht gleich irgendeinen Rupak oder Patel beauftragen, sich das Geschehen drüben in Delhi anzusehen und seine Story per Mail nach Promise Falls, New York, zu expedieren?
An allen Ecken und Enden wurde der Gürtel enger geschnallt. Das Anzeigenaufkommen durch größere Unternehmen sank mit jeder Woche, und Kleinanzeigen fanden so gut wie gar nicht mehr statt; die Leute verkauften ihren Plunder lieber online. Viele Anzeigenkunden investierten eher in Radio- oder TV -Werbung, statt ganz- oder halbseitige Anzeigen zu schalten. Wo also lag das Problem, Reporter von außerhalb über Ereignisse in einem Städtchen berichten zu lassen, in das sie selbst nie einen Fuß gesetzt hatten? Damit ließen sich Kosten einsparen, und basta.
Obwohl diese Mentalität unter den Erbsenzählern des Standard verständlicherweise weit verbreitet war, hatte sie sich in der Redaktion noch nicht durchsetzen können. Bis jetzt jedenfalls. Allerdings klang mir immer noch in den Ohren, was Brian Donnelly, Chefredakteur und Neffe der Herausgeberin, erst gestern zu mir gesagt hatte: »Es ist ja weiß Gott nicht so schwer, mitzuschreiben, was irgendwelche Leute bei einem Meeting von sich geben. Und wir glauben, wir machen das besser, nur weil wir direkt vor Ort sind? Ganz ehrlich, ein paar von diesen Indern leisten sehr gute Arbeit, David.«
»Hast du das nicht langsam satt?«, fragte Jan, während sie die Scheibenwischer anstellte. Es hatte zu nieseln begonnen.
»Schon. Aber an Brian beiße ich mir jedes Mal wieder die Zähne aus.«
»Ich meinte nicht die Arbeit«, sagte Jan. »Sondern deine Eltern. Wir sehen sie jeden Tag. Klar, sie sind wirklich nett, aber irgendwo ist Schluss. Allmählich habe ich das Gefühl zu ersticken.«
»Seit wann das denn?«
»Nie können wir Ethan einfach bloß abholen nach der Arbeit. Jedes Mal dasselbe Verhör. ›Wie war’s heute?‹, ›Was gibt es Neues?‹, ›Was macht ihr zum Abendessen?‹ – das hält doch kein Mensch aus. Hätten wir Ethan in einem Hort untergebracht, könnten wir ihn abends einfach mitnehmen, ohne diesen ganzen Irrsinn.«
»Oh, tolle Idee. Du willst ihn also irgendwelchen Leuten überlassen, die sich letztlich kein Stück für ihn interessieren.«
»Du weißt, was ich meine.«
»Okay«, sagte ich ruhig. Ich wollte unser Gespräch auf keinen Fall in einen Streit ausarten lassen, schon allein, weil ich nicht genau wusste, was los war. »In ein paar Wochen kommt Ethan doch sowieso in den Kindergarten. Und dann brauchst du auch keine, wie du sie nennst, ›Verhöre‹ mehr über dich ergehen zu lassen.« Ich schüttelte den Kopf. »Mal ganz davon abgesehen, dass uns deine Eltern ja nicht zur Verfügung stehen.«
Jan warf mir einen scharfen Blick zu. Ich bereute meinen Kommentar sofort.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Das war nicht fair.«
Jan schwieg.
»Es tut mir leid.«
Jan setzte den Blinker und bog in die Einfahrt ein. »Mal sehen, was dein Vater diesmal wieder vollbracht hat.«
***
Ethan saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und sah sich Family Guy an. Ich schaltete den Fernseher aus. »Mom«, rief ich. »Das ist noch nichts für Ethan!«
»Ist doch bloß ein Cartoon«, rief sie über das Rauschen des Wasserhahns in der Küche hinweg.
»Hol deine Sachen«, sagte ich zu Ethan und trat hinter meine Mutter, die an der Spüle stand. »In einer Folge will der Hund Sex mit der Mutter haben, und in einer anderen richtet das Baby eine Maschinenpistole auf sie.«
»Ach was«, erwiderte sie. »Man muss nicht aus jeder Mücke einen Elefanten machen. Es ist doch bloß eine Zeichentrickserie. Allmählich führst du dich auf wie dein Vater.«
»Die Zeiten haben sich geändert«, gab ich zurück. »Mom, das ist nicht Familie Feuerstein . Solche Cartoons sind für Vierjährige völlig ungeeignet.«
Ethan schlurfte in die Küche; er sah müde und leicht verwirrt aus. Es überraschte mich, dass er nichts zu essen haben wollte. Aber wahrscheinlich hatte Mom ihn bereits verköstigt.
Jan kam herein und ging neben Ethan in die Hocke. »Na, mein Kleiner?« Sie warf einen Blick in seinen Rucksack. »Hast du auch alles dabei?«
Er nickte.
»Wo ist dein Transformer?«
Ethan überlegte einen Moment, ehe er ins Wohnzimmer sprintete. »Auf dem Sofa!«
»Was treibt Dad eigentlich?«,
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