Kein Entkommen
mochte auch Gillian, ihre Tochter. Wir trafen uns öfter und öfter, und schließlich übernachtete ich jeden zweiten Abend bei ihr. Ich betrachtete mich nicht bloß als ihren Freund, sondern als ihren weißen Ritter. Ich war derjenige, der sie wieder zum Lächeln bringen würde.
Umso härter traf es mich, als sie von einem Tag auf den anderen Schluss mit mir machte.
»Das geht mir alles zu schnell«, sagte sie. »Genauso habe ich es beim letzten Mal auch verbockt. Ich habe einfach nicht nachgedacht. David, du bist wirklich ein wunderbarer Mann, aber …«
Über unsere Trennung war ich erst hinweggekommen, als ich schließlich Jan kennengelernt hatte. Und inzwischen war zwischen Sam und mir auch wieder alles im Lot. Trotzdem war sie nach wie vor alleinerziehende Mutter und kämpfte täglich ums Überleben.
Sie lebte von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck, und manchmal reichte es hinten und vorn nicht. Früher hatte sie sich speziell um Gewerkschaftsangelegenheiten gekümmert, doch mittlerweile konnte sich der Standard keine Journalisten mit Spezialressort mehr leisten. Stattdessen wurde sie dort eingesetzt, wo gerade Not am Mann war, was ihre Planungen nur allzu oft komplett über den Haufen warf. Pausenlos war sie damit beschäftigt, einen Babysitter für ihre Tochter zu finden, wenn wieder mal in letzter Sekunde ein neuer Auftrag auf ihren Schreibtisch flatterte.
Ich hatte zwar nicht dieselben finanziellen Sorgen, doch Jan und ich sprachen oft darüber, welche Alternativen ich hatte, wenn ich plötzlich ohne Job dastehen würde. Mit meiner Arbeitslosenversicherung würde ich nicht weit kommen. Weshalb wir beide ein paar Wochen zuvor zusätzlich eine Lebensversicherung abgeschlossen hatten, was wiederum bedeutete, dass Jan und ich tot mehr wert waren als lebendig. Anders ausgedrückt: Wenn ich arbeitslos wurde und mich vor einen Zug warf, war Jan um 300 000 Dollar reicher.
»Hast du mal einen Augenblick Zeit, David?«
Ich wandte mich um. Es war Brian Donnelly, unser Chefredakteur. »Was gibt’s denn?«
Mit einem Nicken deutete er in Richtung seines Büros. Ich stand auf und folgte ihm. Da er sich weder umdrehte noch mit mir plauderte, kam ich mir vor wie ein Hund, den er an einer unsichtbaren Leine hinter sich herzerrte. Ich war noch keine vierzig, doch Brian gehörte zu einer neuen Generation von Blattmachern. Er war gerade mal sechsundzwanzig, ein smarter Managertyp, der die Bosse weniger mit seinen journalistischen Fähigkeiten als mit seinem Businessgeschwafel von sich überzeugt hatte. Ununterbrochen fielen Begriffe wie »Marketing«, »Trends«, »Präsentation« und »Synergien«, gewürzt mit dem allseits beliebten Modewörtchen »Zeitgeist«. Die leitenden Redakteure der Ressorts Sport und Kultur waren ebenfalls unter dreißig – noch zwei Gründe mehr, warum sich alle, die zehn oder mehr Jahre für den Standard arbeiteten, mittlerweile wie in einem Kindergarten vorkamen.
Brian nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und bat mich, die Tür zu schließen.
»Also, diese Sache mit dem Gefängnis«, sagte er. »Was hast du in der Hand?«
»Star Spangled Corrections hat Reeves einen Urlaub in Italien spendiert«, sagte ich. »Vermutlich wird er für den Bau des Knasts stimmen, wenn die Sache vor den Stadtrat kommt.«
» Vermutlich . Und da es ja bislang zu keiner Abstimmung gekommen ist, besteht also auch kein Interessenkonflikt für ihn, richtig? Und falls er sich der Stimme enthält, sind wir angeschmiert.«
»Was versuchst du mir zu verklickern, Brian? Dass ein Cop, der sich von ein paar Bankräubern schmieren lässt, in keinen Interessenkonflikt gerät, solange die Kerle die Bank nicht ausrauben?«
»Hä?«, sagte Brian. »Hier geht’s nicht um einen Banküberfall, David.«
Metaphern waren nicht sein Ding. »Ich versuche nur, dir die Tragweite zu erklären.«
Brian schüttelte den Kopf, als wolle er die letzten Sekunden unserer Unterhaltung aus seinem Kopf verscheuchen. »Noch mal zu der Hotelrechnung«, sagte er. »Ist es hundertprozentig sicher, dass Reeves sie nicht selbst bezahlt hat? Außerdem wäre es doch möglich, dass er das Geld zurückzahlen will.« Er blickte auf seinen Monitor und scrollte herunter. »Und soweit ich sehe, hat er ja nichts abgestritten.«
»Dafür hat er mich als Stück Scheiße bezeichnet.«
»Jedenfalls müssen wir ihm eine Chance geben, sich zu erklären, bevor wir die Sache an die große Glocke hängen«, sagte Brian Donnelly. »Es kann ja wohl auch nicht in
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