Kein Entkommen
herauskomme.«
Anfangs glaubte ich – okay, ich bin eben ein Mann und habe letztlich keine Ahnung, was in der weiblichen Psyche vor sich geht –, ihre Hormone würden verrücktspielen. Bald aber ging mir auf, dass es sich um mehr handelte. Jan war komplett durch den Wind. Klar, ein Arzt hätte es sicher anders ausgedrückt. Jan war deprimiert. Was aber nicht notwendigerweise hieß, dass sie unter einer Depression litt.
»Ist es die Arbeit?«, fragte ich sie eines Abends, als wir schon zu Bett gegangen waren. Sanft strich ich ihr über den Rücken. Jan arbeitete zusammen mit einer Kollegin als Sekretärin bei Bertram’s Heating & Cooling. »Ist irgendwas vorgefallen?« Die jüngste Wirtschaftskrise hatte dafür gesorgt, dass weniger Klimaanlagen und Heizungen verkauft wurden, was Ernie Bertram aber wiederum mehr Reparaturaufträge einbrachte. Und dass sie sich mit ihrer Kollegin Leanne Kowalski in die Haare gekriegt hatte, glaubte ich nicht. Bei Ernie gab es so viel zu tun, dass sich die beiden manchmal tagelang nicht sahen.
»Nein«, erwiderte Jan. »Bei der Arbeit ist alles bestens.«
»Habe ich irgendwas getan?«, fragte ich. »Sag mir, wenn ich irgendetwas falsch gemacht habe.«
»Es liegt nicht an dir«, sagte sie. »Es ist bloß … Ich weiß es einfach nicht. Manchmal wünschte ich, es würde endlich aufhören.«
»Aufhören? Was?«
»Nichts«, sagte sie. »Lass uns schlafen.«
Ein paar Tage später schlug ich ihr vor, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Zunächst konnte sie ja einfach unseren Hausarzt aufsuchen.
»Vielleicht kann er dir ja etwas verschreiben«, sagte ich.
»Ich will keine Medikamente«, sagte Jan, ehe sie rasch hinzufügte: »Ich will nicht als Zombie durch die Gegend laufen, verstehst du?«
Am Tag, als sie mich in meinem Büro angerufen hatte, fuhren wir nach der Arbeit zu meinen Eltern, um Ethan abzuholen.
Meine Mutter und mein Vater, Arlene und Don Harwood, wohnten in einem der älteren Viertel von Promise Falls. Das einstöckige rote Backsteinhaus war in den Vierzigern gebaut worden. Sie hatten es 1971 gekauft, als meine Mutter mit mir schwanger gewesen war. Zwar hatte Mom ein paarmal davon geredet, das Haus verkaufen zu wollen, nachdem Dad vor vier Jahren in Rente gegangen war. Schließlich bräuchten sie nun nicht mehr so viel Platz, meinte sie, und der Garten würde auch nur Arbeit machen; ein Apartment wäre völlig ausreichend, doch Dad ließ sich nicht darauf ein. Eingezwängt in einer Eigentumswohnung? Da würde er doch den Verstand verlieren. Hier hatte er seine Werkstatt in der Doppelgarage, wo er mehr Zeit als im Haus selbst verbrachte. Er war ein gnadenloser Heimwerker, immer auf der Suche nach etwas, das er reparieren konnte, wenn er nicht gerade etwas niederriss, um es wieder aufzubauen. Keine Tür hatte bei ihm die Chance, zweimal zu quietschen. Stets hatte Dad eine Dose WD -40-Multifunktionsöl dabei, und klemmende Fenster, tropfende Hähne, leckende Toiletten oder wackelige Türknäufe waren Bagatellen für ihn. Dad wusste genau, welche Werkzeuge er wofür benötigte, und hätte sie jederzeit auch mit verbundenen Augen gefunden.
»Er macht mich noch wahnsinnig«, pflegte Mom mit Blick zur Fliegentür zu sagen, »aber ich kann mich nicht erinnern, dass wir in zweiundvierzig Jahren Ehe je einen Moskito im Haus gehabt hätten.«
Dads Problem bestand darin, dass er nicht verstehen konnte, warum nicht alle Menschen ihren Pflichten genauso penibel nachkamen wie er. Auf die Fehler anderer reagierte er ungnädig und intolerant. Als Bauaufsichtsbeauftragter der Stadt hatte er Architekten und Bauunternehmern das Leben wahrhaft alles andere als leichtgemacht. Und als er spitzbekommen hatte, dass sie ihn hinter seinem Rücken Mr Superpenibel nannten, hatte er sich Visitenkarten mit seinem Spitznamen drucken lassen.
Es war ihm ein echtes Anliegen, die Welt zu verbessern, selbst wenn es um noch so kleine Kleinigkeiten ging.
»Wenn du die Löffel so herum auf die Spüle legst, hinterlässt das Wasser einen Rand«, belehrte er meine Mutter etwa und hielt ihr das bemängelte Besteck unter die Nase.
»Hau bloß ab«, erwiderte Mom dann, worauf sich mein Vater grummelnd in die Garage zurückzog.
Doch hinter ihren Kabbeleien verbarg sich eine tiefe gegenseitige Zuneigung. Nie hätte Dad Moms Geburtstag, einen Hochzeits- oder den Valentinstag vergessen.
Wenn Jan und ich Ethan bei ihnen ablieferten – wie jeden Tag unter der Woche, wenn wir arbeiteten –,
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