Kein Fall für Mr. Holmes
»gesellschaftlich niedriger Stehenden« zu reden, als überaus unangenehm empfand.
»Sie können, falls Sie es wollen«, fuhr sie fort, »bis zum Ende der Woche bleiben, womit sie sicherlich genügend Zeit haben, um Ihre persönlichen Sachen zusammenzupacken, und, sofern Sie den Wunsch haben, dem Begräbnis Ihrer Ladyschaft beizuwohnen.«
Ich beobachtete beklommen, wie sich die Nackenmuskeln von Vi vor Zorn anspannten. Reiß dich zusammen, altes Mädchen, sagte ich in Gedanken. So wie ich meine alte Freundin kannte, wußte ich, daß sie wie ein Sturm mitten auf dem Atlantik aufbrausen konnte.
»Sie sind zu gütig, wirklich, Lady Margaret«, lautete indes die beherrschte Antwort.
Ich seufzte erleichtert auf. Und dennoch kam, wie weit entferntes Donnergrollen, ein Gefühl der Spannung im Raum auf. Ich beschloß, die sich nähernden Sturmwolken abzuwehren, indem ich meine Aufmerksamkeit Sir Charles zuwandte, der zu unserer kleinen Enklave zurückgekehrt war und den übriggebliebenen Inhalt seines Brandys im Glas schwenkte, während er gedankenverloren eine kleine Melodie vor sich hin summte. Ein scharfer Blick seiner Frau beendete das Lied abrupt.
»Bitte lassen Sie mich mein Beileid zum Ableben Ihrer Mutter aussprechen«, sagte ich.
»Was? Oh, ja«, antwortete er ein wenig verwirrt, da ihn meine Worte offensichtlich aus irgendwelchen Gedanken gerissen hatten. »Danke, Mrs. Hudson. Sie wird uns allen schrecklich fehlen, fürchte ich.«
»Und die Ursache, wenn ich so anmaßend sein darf, mich danach zu erkundigen?«
»Was?«
»Die Ursache. Die Todesursache«, wiederholte ich und fühlte, wie sich drei Augenpaare in mich hineinbohrten. Dennoch wollte ich wissen, welche Antwort ich von den St. Clairs auf meine Frage erhalten würde.
»Ach ja, die Ursache.« Während er seiner Frau einen Blick zuwarf, vernahm ich erneut einen nervösen Hustenanfall des Baronets.
»Unser Familienarzt führt den Tod auf nichts anderes als ein Herzversagen zurück«, warf Lady Margaret ein, um die Kontrolle über das Unbehagen, welches im Zimmer herrschte, zu erlangen. »So unangenehm es auch sein mag, Mrs. Hudson«, fuhr sie herablassend fort, »wir alle müssen uns mit der Tatsache abfinden, daß niemand ewig lebt. Ihre Ladyschaft war immerhin eine Frau in weit fortgeschrittenem Alter.«
»So verflucht fortgeschritten nun auch wieder nicht!« lautete der sarkastische Kommentar meiner alten Freundin.
Ihre Bemerkung schlug ein wie eine Bombe. Während Sir Charles einfach nur unruhig dastand und einen peinlich berührten Eindruck machte, wurde seine Frau fuchsteufelswild. Ihr Sinn für gesellschaftliche Etikette war verschwunden, als ihre Stimme vor Erregung bebte.
»Es gibt einige Menschen, Mrs. Hudson«, und obwohl sich die Augen Lady Margarets in Vis brannten, waren die gefauchten Worte an mich gerichtet, »die eher ihren eifrigen Phantasien glauben als dem Bericht des Arztes!«
Ich war angesichts dieses plötzlichen Ausbruches sprachlos. Es schien, als schwele unter dem frostigen Äußeren der Eiskönigin ein feuriger Zorn. In dieser Situation hielt ich es für das beste, uns zu verabschieden.
»Vi«, sagte ich, »wir sollten vielleicht…«
»Ja, da hast du recht«, antwortete sie, stützte sich mit den Händen auf den Armlehnen des Sessel ab und erhob sich. »Wir ziehen uns am besten für heute abend zurück. Du hast doch schon gegessen, nicht wahr, meine Liebe?«
»Ja, in der Tat. Ich war in einer Teestube im Dorf.«
»Gut. Sie brauchen die Diener nicht zu bemühen, Sir Charles; ich kümmere mich um das Gepäck von Mrs. Hudson.«
Ich teilte Vi mit, daß ich lediglich mit einem kleinen Koffer gekommen wäre, da ich keine Ahnung von der Dauer meines Aufenthaltes gehabt hätte. »Sie entschuldigen uns also, Lady Margaret?« fragte ich.
Keine Antwort.
»Sir Charles?«
»Ja, ähm, gute Nacht, Mrs. Hudson, Mrs. Warner«, antwortete er und stellte sein Glas auf den Teewagen, ohne auch nur eine von uns anzuschauen.
Draußen in der Eingangshalle war Violet so freundlich und holte meinen Koffer von dort hervor, wohin er gestellt worden war. Ich hielt am Fuße der Treppe inne, faßte an das dunkle Geländer aus Walnuß und schaute nach oben: Für jemanden in meinem Alter erschien es mir als ein so gewaltiger Aufstieg wie die Spanische Treppe von Rom.
Violet bemerkte mein Zögern, als ich mich tief durchatmend auf den Versuch des Erklimmens vorbereitete.
»Na komm«, verkündete sie kichernd, »so schlimm, wie es aussieht,
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