Kein Fall für Mr. Holmes
sollte nicht beantwortet werden, denn in genau dem Moment war mein Blick auf einen Schatten gefallen, der zwischen Tür und Fußboden zu erkennen war und dessen Ursprung im Flur zu suchen war. Ich warnte Vi, indem ich zur Tür wies und unhörbare Worte von mir gab: »Da – lauscht – jemand.«
Daraufhin ergriff sie den neben dem Kamin liegenden Schürhaken, und zusammen pirschten wir vor. Während Vi den Schürhaken fest umklammerte und ihn zur Verteidigung über dem Kopf hielt, griff ich nach dem Knauf, riß die Tür auf und wurde mit einem weißen Schnauzbart konfrontiert. Hinter dem herabhängenden Gestrüpp war ein erschütterter Colonel Wyndgate zu sehen.
»Um Himmels willen, Madam! Was beabsichtigen Sie damit zu tun?« stieß er mit einem mißtrauischen Blick auf den erhobenen Schürhaken hervor.
»Das ist jetzt unwichtig, aber was haben Sie vor der Tür gemacht?« fragte Vi. »Den Wald nach Termiten abgesucht?«
»Den Wald nach…? Meine liebe Frau«, entgegnete er wütend und mit bebenden Wangen, »ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!«
»Aber Sie haben doch vor der Tür gestanden, Colonel. Warum?« fragte ich.
»Warum? Warum, Mrs. Hudson? Ich wollte einfach nur, ich meine…«, stotterte er, bis er letztendlich seine Haltung wiedergewann. »Ich war auf dem Weg nach unten, als ich mir dachte, ich könnte um das Vergnügen bitten, die Damen zum Dinner begleiten zu dürfen. Hatte noch nicht einmal Zeit zu klopfen, als…«
»Nun, es ist doch wirklich merkwürdig, daß Sie bisher noch nie darum gebeten haben!« erwiderte Violet unwirsch und wenig überzeugt.
»Und ich bezweifle sehr wohl, daß ich es jemals wieder tun werde!« brummte das Rote-Bete-Gesicht.
»Du kannst den Schürhaken wieder hinlegen, Vi«, lächelte ich. »Ich denke, im Moment sind wir sicher. Und«, sagte ich zu dem alten Soldaten, »da wir tatsächlich gerade großen Hunger verspüren und da es tatsächlich Zeit für das Dinner ist, Colonel, begleiten wir Sie nur zu gern.«
Was die am Tisch Anwesenden betraf, so war ihre Unterhaltung zwar schleppend, aber doch freundlich. Die unterschwelligen Spannungen, die noch herrschten, als ich das letzte Mal mit ihnen zusammensaß, waren von der Speisetafel verschwunden. Es schien, als versuchten sie, die Ereignisse der letzten Tage hinter sich zu lassen. Auch wenn dies an sich lobenswert war, so sollte es sich doch noch vor dem Ende dieses Abends als verfrüht herausstellen.
Nachdem ich Lady Margaret mein Kompliment für das Mahl ausgesprochen hatte und dabei heimlich die übriggebliebenen Reste eines allzu gummihaften Yorkshire-Puddings unter meinem Kartoffelpüree versteckt hatte, wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Baronet zu.
»Dr. Morley leistet uns heute abend keine Gesellschaft, Sir Charles?«
»Heute abend nicht, Mrs. Hudson. Er ließ uns ausrichten, daß er bedauerlicherweise ein wenig unter dem Wetter leidet.«
»Vielleicht sollte er einen Arzt aufsuchen!« meinte der alte Colonel mit schallendem Gelächter.
Es folgte ein peinlich berührtes, höfliches gedämpftes Lachen am Tisch.
»Noch Wein, Margaret?«
»Ja, ein wenig, Henry.«
Hogarth, der schweigsam hinter dem Stuhl von Sir Charles gestanden hatte, war augenblicklich neben ihr.
»Die Damen?« Ein fragender Blick des jüngeren St. Clair.
»Für mich nicht mehr, Squire«, sagte Vi.
»Für mich auch nicht«, erwiderte ich, woraufhin ich dem Fuß meiner Kameradin einen verschwörerischen Tritt verpaßte und hoffte, sie würde nicht widersprechen, als ich mich erhebend verkündete: »Wirklich, ein herrliches Mahl, Lady Margaret. Wenn Sie uns nun entschuldigen möchten?«
Während wir uns vom Tisch verabschiedeten, erlangte ich Hogarths Aufmerksamkeit mit einer Kopfbewegung in Richtung Tür. Er verstand mein Anliegen und antwortete gleichermaßen mit einem leichten und heimlichen Kopfnicken seinerseits.
Als wir draußen waren, wandte ich mich Vi zu. »Wenn sie sich ins Musikzimmer zurückziehen, wie verbringen sie dann ihre Zeit?« fragte ich.
»Nun, Sir Charles spielt vielleicht ein wenig Klavier. Lady Margaret macht ein wenig Handarbeit. Der Squire und der Colonel lesen vielleicht eine Zeitlang, bevor sie sich zum Kartenspielen davonmachen.«
»Und wie lange bleiben sie ungefähr in dem Zimmer?«
»Höchstens eine Stunde, würde ich sagen. Warum fragst du?«
»Ich möchte, daß du ins Musikzimmer gehst und dort auf sie wartest«, teilte ich ihr mit und ignorierte ihre Frage. »Leiste ihnen Gesellschaft,
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