Kein Friede den Toten
Massachusetts, verbracht hatte. Sie hatten Decken und Kissen vor dem Kamin ausgebreitet und eine Flasche Wein aufgemacht. Er wusste noch genau, wie Olivia das Weinglas am Stiel gehalten hatte, wie sie ihn angesehen hatte, wie die Welt, die Vergangenheit, die zaghaften, ängstlichen Schritte in die Freiheit verblasst waren, wie das Feuer sich in ihren grünen Augen gespiegelt hatte. Und dann dachte er daran, wie sie dasselbe mit einem anderen Mann machte.
Da kam ihm ein neuer Gedanke – ein so schrecklicher, so unerträglicher Gedanke, dass er beinah die Kontrolle über den Wagen verloren hätte.
Olivia war schwanger.
Die Ampel wurde rot. Matt wäre fast durchgefahren. Er trat erst im letzten Moment auf die Bremse. Ein Fußgänger, der schon einen Fuß auf die Straße gesetzt hatte, sprang zurück und drohte ihm mit der Faust. Matt nahm die Hände nicht vom Lenkrad.
Es hatte sehr lange gedauert, bis Olivia schwanger geworden war.
Sie waren beide Mitte dreißig, und Olivia hatte befürchtet, die Zeit könnte knapp werden. Sie wollte unbedingt eine Familie gründen. Ihre gemeinsamen Zeugungsversuche hatten lange keine Wirkung gezeigt. Matt hatte angefangen sich zu fragen,
ob es an ihm lag – und zwar ernsthaft. Im Gefängnis war er mehrmals heftig zusammengeschlagen worden. In der dritten Woche hatten vier Männer ihn mit gespreizten Beinen am Boden festgehalten, und ein fünfter hatte ihm in den Schritt getreten. Er hatte vor Schmerz fast das Bewusstsein verloren.
Und jetzt war Olivia plötzlich schwanger.
Er wollte sein Gehirn abschalten, doch es gelang ihm nicht. Wut packte ihn. Das war besser als der Schmerz, dachte er, besser als diese grässliche Qual, miterleben zu müssen, wie etwas, das er liebte, ihm wieder entrissen wurde.
Er musste sie finden. Und zwar sofort.
Olivia war in Boston. Das waren fünf Stunden mit dem Auto. Scheiß auf die bautechnische Begutachtung. Fahr einfach hin und klär das direkt mit ihr.
Wo wohnte sie?
Er dachte darüber nach. Hatte sie es ihm gesagt? Er wusste es nicht mehr. Das war auch so eine Sache mit Handys. Man kümmerte sich kaum noch um so etwas. Es war vollkommen egal, ob sie im Hilton oder im Marriott abstieg. Sie war auf Geschäftsreise. Sie war sowieso die ganze Zeit unterwegs, Meetings, Geschäftsessen und so weiter, und würde kaum im Hotelzimmer sein.
Und wenn man sie erreichen wollte, ging das am besten übers Handy.
Und was jetzt?
Er hatte keine Ahnung, wo sie untergekommen war. Und selbst wenn, wäre es nicht klüger, vorher anzurufen? Womöglich war das, was er auf seinem Fotohandy gesehen hatte, gar nicht ihr Hotelzimmer. Es konnte ebenso gut das von Mr Blauschwarze Haare sein. Und selbst wenn er wusste, in welchem Hotel sie abgestiegen war, was passierte denn, wenn er hinfuhr und dort an die Tür klopfte. Was war, wenn Olivia im Negligé die Tür öffnete und Blauschwarz mit einem Handtuch
um die Hüfte hinter ihr stand? Was sollte Matt dann tun? Ihn zu Brei schlagen? Mit dem Finger auf ihn zeigen und »Soso!« rufen?
Er versuchte noch einmal, sie auf dem Handy zu erreichen. Wieder ging niemand dran. Er hinterließ nicht noch eine Nachricht.
Warum hatte Olivia ihm nicht gesagt, in welches Hotel sie wollte?
Blöde Frage, was, Matt, alter Junge?
Der rote Vorhang senkte sich vor seinen Augen.
Schluss jetzt.
Er probierte es in ihrem Büro, aber der Anruf wurde direkt an ihren Anrufbeantworter weitergeleitet. Hallo, hier spricht Olivia Hunter. Ich bin bis Freitag nicht im Büro. Wenn Ihr Anliegen nicht warten kann, erreichen Sie meine Assistentin Jamie Suh, indem sie jetzt ihre Durchwahl, die sechs, vier, vier eintippen …«
Matt wählte Jamies Nummer. Nach dem dritten Klingeln meldete sie sich.
»Apparat Olivia Hunter.«
»Hey, Jamie. Hier ist Matt.«
»Hi, Matt.«
Er hatte die Hände am Lenkrad und versuchte, über eine Freisprechanlage zu telefonieren. Dabei kam er sich immer ein bisschen seltsam vor – wie ein Verrückter, der sich mit einem imaginären Freund unterhält. Beim Telefonieren sollte man ein Telefon in der Hand halten. »Ich hätte nur kurz eine Frage.«
»Nur zu.«
»Wissen Sie, in welchem Hotel Olivia wohnt?«
Er bekam keine Antwort.
»Jamie?«
»Ja, ich bin noch da«, sagte sie. »Äh, ich guck eben nach, wenn Sie einen Moment dranbleiben. Aber warum rufen Sie sie nicht einfach auf dem Handy an? Das ist auch die Nummer,
die sie für Kunden hinterlassen hat, falls jemand sie dringend erreichen muss.«
Er wusste
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