Kein Friede den Toten
nicht, was er darauf sagen sollte, ohne vollkommen verzweifelt zu klingen. Wenn er ihr sagte, er hätte es versucht und eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen, würde Jamie sich fragen, warum er nicht einfach auf ihren Rückruf wartete. Er zermarterte sich das Gehirn auf der Suche nach einer plausiblen Erklärung.
»Ja, ich weiß«, sagte er. »Aber ich will ihr Blumen schicken. Soll eine Überraschung sein.«
»Verstehe.« Sie klang nicht begeistert. »Gibt’s irgendwas zu feiern?«
»Nein.« Dann fügte er oberlahm hinzu: »Hey, aber wir fühlen uns immer noch wie in den Flitterwochen.« Er lachte über seinen jämmerlichen Scherz. Jamie lachte nicht mit.
Dann folgte ein längeres Schweigen.
»Sind Sie noch da?«, fragte Matt.
»Ja.«
»Können Sie mir sagen, wo sie abgestiegen ist?«
»Ich schaue gerade nach.« Er hörte das Klappern einer Tastatur. Dann sagte sie: »Matt?«
»Ja.«
»Hier kommt gerade ein anderer Anruf rein. Kann ich Sie zurückrufen, wenn ich das Hotel gefunden habe?«
»Klar«, sagte er, obwohl ihm das überhaupt nicht gefiel. Er gab ihr seine Handy-Nummer und legte auf.
Was zum Teufel war da los?
Wieder vibrierte sein Handy. Er sah aufs Display. Sein Büro. Rolanda verschwendete keine Zeit mit Begrüßungsfloskeln.
»Wir haben ein Problem«, sagte sie. »Wo bist du?«
»Ich komme gerade auf die 78th Street.«
»Kehr um. Washington Street. Die sind grad dabei, Eva rauszuwerfen.«
Er fluchte leise. »Wer?«
»Pastorin Jill und ihre zwei fetten Söhne. Sie haben Eva bedroht.«
Pastorin Jill. Eine Frau, die ihren Theologie-Abschluss online gemacht hatte und »Wohnprojekte« für Jugendliche einrichtete, die aus Spenden finanziert wurden und in denen die Jugendlichen genau so lange bleiben durften, wie sie genug Lebensmittelgutscheine herausrückten. Der Betrug, der mit den Armen betrieben wird, ist ungeheuerlich. Matt bog nach rechts ab.
»Bin schon unterwegs«, sagte er.
Zehn Minuten später hielt er an der Washington Street. Das Viertel lag neben dem Branch Brook Park. Als Junge hatte Matt dort Tennis gespielt. Später war er sogar eine Zeit lang in der Jugendliga angetreten, und seine Eltern hatten ihn jedes zweite Wochenende zu Turnieren nach Port Washington gefahren. Er war sogar in der U14-Rangliste von New Jersey vertreten gewesen. Branch Brooks hatte seine Familie aber schon damals gemieden. Matt würde nie ganz begreifen, was mit Newark geschehen war. Es war einmal eine wunderbare, blühende Stadt gewesen. Wie überall hatten die Wohlhabenderen die 50er und 60er Jahre für ihren Auszug in die Vororte genutzt. Das war ganz normal gewesen. Aber Newark war ganz und gar aufgegeben worden. Diejenigen, die die Stadt verlassen hatten, mieden sie hinterher, selbst wenn sie nur ein paar Kilometer aus dem Zentrum herausgezogen waren. Das war zum Teil auf die Unruhen in den späten 60ern zurückzuführen, zum Teil schlicht und ergreifend auf Rassismus. Doch es spielte noch etwas anderes, etwas Schlimmeres mit hinein, und Matt wusste nicht, was das genau war.
Er stieg aus. In diesem Viertel wohnten mehrheitlich Afroamerikaner. Auch der Großteil seiner Mandanten war schwarz. Auffällig fand Matt das schon. Während seines Gefängnisaufenthalts
hatte er das Wort »Nigger« häufiger als jedes andere gehört. Er hatte es selbst benutzt, anfangs um sich anzupassen, mit der Zeit hatte es immer weniger abstoßend geklungen, was natürlich an sich betrachtet noch widerwärtiger war.
Am Ende hatte er sich gezwungen gesehen, etwas, an das er sein Leben lang geglaubt hatte, zu widerrufen: die in den liberalen Vororten verbreitete Lüge, dass die Hautfarbe keine Rolle spielte. Im Gefängnis zählte nur die Hautfarbe. Und hier draußen war sie nicht weniger wichtig, wenn auch auf eine ganz andere Art.
Er ließ den Blick über die Umgebung schweifen und sah ein interessantes Graffito. Auf eine bröckelnde Backsteinwand hatte jemand in gut ein Meter hohen Buchstaben folgende zwei Worte gesprüht:
SCHLAMPEN LÜGEN!
Normalerweise hätte Matt das nicht weiter beachtet. Heute schon. Die Schrift war rot und schief. Selbst wenn man nicht lesen konnte, sah man die Wut, die der Schöpfer dieses Graffitos empfunden haben musste. Matt fragte sich, was ihn bewegt hatte, das zu schreiben. Er überlegte, ob diese Sachbeschädigung den Zorn des Schöpfers besänftigt hatte – oder ob es nur ein erster Schritt gewesen war, der weitere Zerstörung nach sich gezogen hatte?
Er ging zu dem
Weitere Kostenlose Bücher