Kein Friede den Toten
Vater gestorben.«
»Geschwister?«
»Keine.«
»Ihr Vater hat sie allein aufgezogen?«
»Im Prinzip ja. Und?«
Cingle fuhr fort. »Wo ist sie aufgewachsen?«
»Northways, Virginia.«
Cingle schrieb es auf. »Und da ist sie dann auch aufs College gegangen?«
Matt nickte. »Auf die University of Virginia.«
»Was noch?«
»Wie meinst du das? Was soll es sonst noch geben? Sie arbeitet seit acht Jahren für DataBetter Associates. Ihre Lieblingsfarbe ist Blau. Sie hat grüne Augen. Sie liest mehr als jeder andere Mensch, den ich kenne. Ihre heimliche Leidenschaft sind sentimentale Kitschfilme. Und – auf das Risiko, dass du dich gleich übergeben musst – wenn ich aufwache und Olivia
neben mir liegt, dann weiß ich, ich weiß einfach, dass es auf der ganzen Welt keinen glücklicheren Menschen gibt als mich. Schreibst du das mit?«
Die Bürotür sprang auf. Beide drehten sich um. Midlife kam herein. »Oh, Entschuldigung, ich wollte nicht stören.«
»Nein, schon in Ordnung«, sagte Matt.
Midlife schaute theatralisch auf die Uhr. »Ich muss dringend mit Ihnen den Sterman-Prozess durchgehen.«
Matt nickte. »Ich wollte Sie sowieso gerade anrufen.«
Beide sahen Cingle an. Sie stand auf. Unbewusst rückte Midlife seine Krawatte zurecht und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
»Ike Kier«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.
»Ja«, sagte Cingle und schaffte es, nicht die Augen zu verdrehen. »Sehr erfreut.« Sie sah Matt an. »Wir hören voneinander.«
»Danke.«
Sie sah ihn einen Moment länger an als nötig, drehte sich auf dem Absatz um und ging zur Tür. Midlife sprang fast zur Seite. Als sie gegangen war, setzte Midlife sich, stieß einen kurzen Pfiff aus und sagte: »Wer um alles in der Welt war denn das?«
»Cingle Shaker. Sie arbeitet für MVD.«
Midlife sah ihn ungläubig an. Dann schlug er die Beine übereinander. Seine Haare waren ordentlich gescheitelt. Graues Haar steht Anwälten grundsätzlich, zumindest solange es noch voll ist. Es verleiht ihnen eine gewisse Würde, was bei den Geschworenen immer gut ankommt.
Matt zog die Schreibtischschublade auf und holte die Sterman-Akte heraus. Sie sprachen drei Stunden lang über den Fall, planten die Vorverhandlung und dachten über ein mögliches Vergleichsangebot des Staatsanwalts nach. Als sie gerade fertig waren, klingelte Matts Fotohandy. Er sah aufs
Display. Dort stand »Nummer unterdrückt«. Matt hielt das Handy ans Ohr.
»Hallo?«
»Hey«, flüsterte eine Männerstimme, »rate mal, was ich gerade mit deiner Frau mache.«
15
Loren Muse konnte den Déjà-vu-Erlebnissen heute nicht entgehen.
Sie hielt vor Marsha Hunters Haus in der Darby Terrace in Livingston, New Jersey. Livingston war Lorens Heimatstadt. Ihrer Erfahrung nach war das Aufwachsen nie leicht. Die Pubertät ist ein Kriegsgebiet, ganz egal wo man sie erlebt. Angeblich federten beschauliche Kleinstädte wie Livingston die Tiefschläge ab. Vielleicht funktionierte das sogar bei den Menschen, die hierher gehörten. Loren jedoch hatte hier gewohnt, nachdem ihr Vater zu dem Schluss gekommen war, dass er eigentlich nirgendwohin gehörte, nicht einmal in die Nähe seiner Tochter.
Livingston war eine Kleinstadt mit allem Drum und Dran: hervorragenden Schulen, hervorragenden Sportmöglichkeiten, einem hervorragenden Kiwani-Club, einer hervorragenden Eltern-Lehrer-Vereinigung und hervorragenden High-School-Aufführungen. Als Loren hier gelebt hatte, hatten die jüdischen Kinder ganz oben auf der Liste der Klassenbesten gestanden. Jetzt fand man da die asiatischen und indischen Kinder, die Nachkommen der nächsten Einwanderer-Generation, die noch hungrig nach Anerkennung waren und sich dadurch beweisen wollten. Es war diese Art von Stadt. Man kam hierher, man kaufte ein Haus, man zahlte Steuern, man lebte seinen amerikanischen Traum.
Aber man durfte auch die alte Weisheit nicht vergessen: Pass auf, was du dir wünschst – es könnte wahr werden.
Loren klopfte an Marsha Hunters Haustür. Sie hatte keine Ahnung, worin die Verbindung zwischen dieser alleinerziehenden Mutter, einer Rarität in Livingston, und Schwester Mary Rose bestehen könnte – abgesehen von einem sechsminütigen Telefonat. Wahrscheinlich hätte sie zuerst recherchieren sollen, den Background der beiden kurz durchleuchten, aber dafür war keine Zeit gewesen. Also stand sie hier im hellen Sonnenschein im Vorgarten, und die Haustür wurde geöffnet.
»Marsha Hunter?«
Die recht hübsche, wenn auch
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