Kein Friede den Toten
verschiedenen Farben repräsentieren verschiedene sexuelle Akte. Das schwarze zum Beispiel steht für … äh, eine Sache. Und das rote …«
Loren hob eine Hand. »Ich glaub, ich hab’s schon. Die Mädchen tragen sie sozusagen, um anzuzeigen, na ja, wie weit sie es gebracht haben.«
»Schlimmer.«
Loren wartete.
»Deshalb sind Sie nicht hier.«
»Erzählen Sie’s mir trotzdem.«
»Mädchen wie Carla tragen die Armbänder in Gegenwart der Jungs. Wenn ein Junge ihr ein Armband wegschnappen kann, muss sie, na ja, den der Farbe entsprechenden Akt vollführen.«
»Das ist doch wohl ein Scherz.«
Schwester Katherine warf ihr einem Blick zu, in dem die Last von Jahrhunderten lag.
»Wie alt ist Carla?«, fragte Loren.
»Sechzehn.« Schwester Katherine deutete auf einen anderen Stapel Armbänder, als fürchte sie sich davor, ihn zu berühren. »Aber die habe ich von einer Achtklässlerin.«
Dazu gab es nichts zu sagen.
Schwester Katherine griff hinter sich. »Hier ist die Liste der Telefonate, die Sie haben wollten.«
Das Gebäude roch immer noch nach Kreidestaub, genau wie in Lorens Erinnerung – die bis eben noch mit einem nicht unerheblichen Schuss jugendlicher Naivität verbrämt gewesen war. Schwester Katherine reichte ihr einen dünnen Stapel Papiere.
»Wir haben drei Telefone für achtzehn Personen«, sagte die Oberin.
»Das sind sechs Leute pro Telefon.«
Schwester Katherine lächelte. »Und da heißt es, die Kinder lernen bei uns keine Mathematik mehr.«
Loren betrachtete den Jesus am Kreuz hinter Schwester Katherine. Sie musste an einen alten Witz denken, den sie bei ihrer Ankunft hier zum ersten Mal gehört hatte. Ein Junge hat nur Vieren und Fünfen in Mathe, also schicken seine Eltern ihn auf eine katholische Schule. Im ersten Zeugnis stellen die Eltern erschüttert fest, dass ihr Sohn lauter Einsen hat. Als die Eltern ihn darauf ansprechen, sagt er: »Als ich in die Kapelle gegangen bin und den Kerl gesehen habe, den sie an ein Plus genagelt hatten, da wusste ich, dass es ihnen ernst ist.«
Schwester Katherine räusperte sich. »Darf ich Sie was fragen?«
»Schießen Sie los.«
»Weiß man inzwischen, wie Schwester Mary Rose gestorben ist?«
»Die Untersuchung läuft noch.«
Die Oberin wartete.
»Mehr kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.«
»Ich verstehe.«
Jetzt wartete Loren. Als Schwester Katherine sich abwandte, sagte Loren: »Sie wissen mehr, als Sie sagen.«
»Worüber?«
»Über Schwester Mary Rose. Darüber, was mit ihr passiert ist.«
»Konnten Sie ihre Identität schon ermitteln?«
»Nein, aber das werden wir. Spätestens bis heute Abend, denke ich.«
Schwester Katherine streckte den Rücken. »Das wäre ein guter Anfang.«
»Und mehr wollen Sie mir nicht sagen?«
»So ist es, Loren.«
Loren wartete einen Moment lang. Die alte Frau … dass sie log, war wahrscheinlich zu viel gesagt, aber Loren spürte, dass sie nach Ausflüchten suchte. »Haben Sie sich die Liste mit den Telefonaten angesehen, Schwester Oberin?«
»Das habe ich. Und ich habe sie auch von den fünf Schwestern durchsehen lassen, mit denen sie sich das Telefon geteilt hat. Die meisten waren natürlich Gespräche mit Familienmitgliedern. Sie haben Geschwister, Eltern und ein paar Freunde angerufen. Und ein paar Läden in der Umgebung. Manchmal bestellen die Schwestern sich Pizza oder Essen vom Chinesen.«
»Ich dachte, Nonnen müssten die, äh, Nahrung aus der Klosterküche essen.«
»Da haben Sie sich geirrt.«
»Okay«, sagte Loren. »Sind Ihnen irgendwelche Nummern ins Auge gefallen?«
»Nur eine einzige.«
Schwester Katherines Lesebrille baumelte an einer Kette vor ihrer Brust. Sie schob sie auf die Nase und bedeutete Loren mit einer Handbewegung, dass sie ihr die Blätter geben sollte. Loren reichte sie ihr. Die Oberin musterte die erste Seite, leckte sich den Finger an und blätterte zur zweiten. Sie nahm einen Kugelschreiber und kreiste eine Nummer ein.
»Die hier.«
Sie gab Loren das Blatt zurück. Die Nummer hatte die Ortsvorwahl 973. Das war in New Jersey, keine fünfzig Kilometer von hier entfernt. Der Anruf war vor drei Wochen getätigt worden. Er hatte sechs Minuten gedauert.
Wahrscheinlich hatte das nichts zu bedeuten.
Loren sah den Computer auf der Kredenz hinter dem Schreibtisch der Oberin. Der Gedanke, dass die Schwester Oberin im Internet surfte, kam ihr seltsam vor, aber anscheinend gab es heutzutage wirklich nur noch sehr wenige echte Refugien.
»Könnte ich Ihren
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