Kein ganzes Leben lang (German Edition)
Straße hinauf zu seinem Hotel. Was war nur in sie gefahren? Er hatte sie nie zuvor so gesehen. Anna war lebhaft, aber selten vergaß sie sich. Das war bestimmt Helenes Schuld. Annas Großmutter war ihm schon immer suspekt gewesen. Sie stachelte Anna gewiss auf. Plötzlich waren seine Schultern schwer. Seine Wunde pochte. Wie hatte es nur so weit kommen können?
Dieses verdammte Foto, dachte er zum hundertsten Mal. Er war kein notorischer Fremdgänger. Vor Anna hatte er seine Freundinnen ständig gewechselt und gedacht, dass er alles erlebt hatte, was es zu erleben gab. Deswegen hatte er auch mit Anna keine Zeit verloren. Sie war seine große Liebe. Was hätte er da noch warten sollen? Aber er hatte sich verkalkuliert. Als er Lucrezia das erste Mal sah, ahnte er, dass sie ihm etwas geben konnte, das er nie zuvor gehabt hatte. Sie war hemmungslos, ohne billig zu sein, leidenschaftlich, ohne verliebt zu sein. Was er mit Lucrezia erlebte, konnte er mit Anna nicht erleben. Denn er liebte Anna. Aber musste er deswegen auf diese Erfahrung verzichten? Er war ein hervorragender Anwalt, weil er sich den Ausgleich für seinen trockenen Beruf im Privatleben suchte. Lucrezia war Annas Freundin. Das hatte ihn immer gestört. Aber er war leidenschaftlich und liebte das Abenteuer. Warum sich mit weniger zufriedengeben, wenn man alles haben konnte?
„Weil man sich ins eigene Fleisch schneiden kann“, murmelte er vor sich hin, als er die Eingangshalle des Hotels betrat.
4. Kapitel
Als Anna am nächsten Morgen aufwachte, hatte sie keine Muttermilch mehr. Sie ließ sich in einen tiefen Brunnen fallen. Die Wände waren grün gekachelt, wie der Kreißsaal, in dem sie gelegen hatte. Sie streckte die Hände aus, und während sie fiel, glitten ihre Finger an den kalten Kacheln entlang. Als sie den Boden auf sich zukommen sah, hatte sie keine Angst mehr, da war kein Schmerz, keine Verzweiflung mehr, nur noch Leere. An diesem Tag verließ sie das Bett nicht. Sie aß nicht und trank nur das Wasser, das Helene ihr einflößte. Ein paarmal brachte Helene Laura ans Bett. Sie wollte die Hände nach ihr ausstrecken, sie in den Arm nehmen, doch das hätte sie in die Realität zurückgebracht. Sie saß unten auf dem grün gekachelten Boden des Brunnens; der einzige Ort, an dem Frieden war.
Gegen Mittag kam das Fieber wieder. Ihre Stirn glühte, und Helene legte ihr kalte Wickel auf. Auch unten in dem Brunnen fühlte sie die Präsenz des Schmerzes, der oben lauerte. Sie verkroch sich in eine Ecke und rollte sich dort zusammen. Am Nachmittag kam der Arzt und gab ihr ein Beruhigungsmittel. Anna fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Unruhig lief Lucrezia in ihrem Büro hin und her. Christiano war heute noch nicht aufgetaucht. Er hatte eine E-Mail geschickt, in der er mitteilte, von zu Hause aus zu arbeiten. Das war nicht seine Art. Das war noch nie vorgekommen. Eine Unruhe hatte sie befallen, die sie nicht mehr abschütteln konnte. Eine Ahnung davon, dass die Dinge außer Kontrolle zu geraten drohten, lag in der Luft. Lucrezia hasste nichts mehr als Dramen und Gefühlsverstrickungen. Achtzehn Jahre lang hatte sie die theatralischen Gefühlsausbrüche ihrer Mutter ertragen. Alles war ein Drama gewesen und wurde von vielen Tränen begleitet. „Lucrezia, etwas Furchtbares ist passiert. Der Hund der Metzgerin ist heute Morgen überfahren worden“ oder „Jesus Christus und Maria, dein Vater ist noch nicht da. Die Pasta verkocht.“ Wenn Lucrezia die schrecklichen Ereignisse mit einem Achselzucken abtat, war es eine Tragödie, dass die einzige Tochter ein kaltes Herz habe.
Jetzt verriet ihr ihre feine Nase, dass sie Gefahr lief, in ein waschechtes Drama verwickelt zu werden. In der Vergangenheit hätte sie sich sofort zurückgezogen. Aber das bedeutete, sich von Christiano zu trennen. Ihr Verhältnis war zu aufregend. Sie wollte es nicht so ohne Weiteres aufgeben. Entschlossen griff sie zum Handy und wählte Annas Nummer.
Beim zehnten Piepen meldete sich Helene.
„Ich bin Lucrezia, die Freundin von Anna.“ Mehr brauchte sie nicht zu sagen.
„Gut, dass Sie anrufen. Sie sind die einzige Vertraute meiner Enkelin. Ihr geht es nicht gut. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch.“
„Das ist ja schrecklich. Wo ist sie? Im Krankenhaus?“ Hinter Lucrezias Stirn arbeitete es. Was war nur passiert?
„Nein, zu Hause. Aber sie will einfach nicht das Bett verlassen.“
Entschlossen erwiderte Lucrezia: „Ich komme vorbei.“
„Das wäre
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