Kein Kind ist auch (k)eine Lösung
nicht nur bemerkten, sondern auch sofort als Redaktionsmitglied ansahen. Statt sich die Fingernägel zu lackieren, kraulten sie Waltraud, die nichts dagegen hatte und in regelmäßigen Abständen neue Körperteile zur Verfügung stellte. Am liebsten hatte sie es kurz vorm Po. Und manch einer vergaß sogar, seine Zigarette zu rauchen. Hunde machten glücklich und gesund!
Tag drei verging, ohne dass Günther etwas sagte oder ohne dass er etwas merkte. Was mich allerdings auch nicht wunderte.
Wir hatten Anfang des Jahres zwei Praktikantinnen gehabt, beide mit schulterlangen braunen Haaren. Das war aber auch schon alles, was sie gemeinsam hatten. Mein Chef bekam nach genau vier Wochen mit, dass es zwei Praktikantinnen waren! Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er gedacht, die beiden wären ein und dieselbe Person. »Aufgeflogen« war das Ganze erst, als er sich fragte, wie eine Person an einem Tag zwei Nachrichten an unterschiedlichen Orten der Stadt einholen und zwei Reportagen machen konnte. Seit diesem Tag schaute er sich alle Neuen etwas genauer an – behauptete er jedenfalls.
Bis auf Waltraud. Vielleicht hatte sie zu wenig Oberweite.
Mein neuer Kollege, Ole, kam an meinem Schreibtisch vorbei. Waltraud benahm sich, als würde sie ihn kennen. Sie sprang an ihm hoch, schnüffelte interessiert und leckte ihn ab. Es war mir unangenehm, aber im Grunde konnte ich meinen Hund verstehen. Ole kraulte sie.
Ich beobachtete die beiden einen Augenblick lang und erwischte mich, wie ich seine Hände anstarrte und ihn suchte. Aber es gab ihn nicht: den goldenen Ring.
*
Auch am vierten Tag meldete sich der Besitzer nicht bei mir. Ich rief alle Tierheime dieser Stadt an, um zu fragen, ob sich jemand nach einer kleinen, gefleckten Hundedame erkundigt hatte. Ich machte es von meinem Diensttelefon aus, da ich wusste, dass die Rufnummer nicht angezeigt wurde. Vorbeifahren wollte ich nicht. Ich hatte Angst, man würde mir Waltraud wegnehmen. Ich war sogar kurz davor, ihr eine meiner Tönungen zu verpassen, damit man sie im Falle eines Falles nicht wiedererkennen würde.
Dann tat ich das, woran ich im Grunde nicht glaubte: Ich bestellte beim Universum, dass Waltraud mich nie wieder verlassen möge. Anschließend ging ich mit ihr in den nächstbesten Großhandel für Tierbedarf und verließ diesen erst, als man mich darauf hinwies, dass das Geschäft in wenigen Minuten schließen würde.
Ja, und wer würde mir das jetzt alles nach Hause tragen? Mein Wagen war randvoll, mehr ging nicht rein. Wer Hundefutter kaufen wollte, musste eigentlich vorher promovieren. Dabei wollte ich doch einfach nur Hundefutter. Mehr nicht. Ganz einfach Hundefutter. Das gab es allerdings in hundertfacher Ausführung. Mit und ohne irgendwelche Stoffe, die für und gegen irgendetwas waren. Mit und ohne Liebe gekocht. Mit und ohne Bio, Gentechnik und Vollmondabfüllung. Mit fünf Tüten beladen und einem Hundekorb, den ich mir – falsch rum – auf den Kopf packte, sodass er mir wie eine Kapuze den Nacken runterhing, watschelte ich Richtung Arnoldstraße.
Innerhalb kürzester Zeit benahmen wir uns wie ein altes Ehepaar. Und ich musste zugeben, dass diese kleine, komische Hundedame etwas in mein Leben brachte, was ich nicht mehr missen wollte. Bei ihr hatte ich nicht das Gefühl, ich müsste Angst haben, dass sie eines Tages Kinder bekommen und sich nicht mehr melden würde. Vielleicht war es das.
Ich änderte meinen Anrufbeantworterspruch: »Hallo, schön, dass ihr anruft. Dies ist der Anschluss von Charly und Waltraud. Sagt uns, was ihr wollt, und wir rufen gern zurück.«
Ab Tag Nummer fünf hoffte ich, dass der ehemalige Besitzer Waltraud absichtlich bei mir abgesetzt hatte, weil ich so nett aussah und er gedacht hatte, sein Hund würde es gut bei mir haben. Hatte sie ja auch.
Am nächsten Montag riss ich die Glastür der Redaktion etwas zu heftig auf, oder vielleicht lag es auch daran, dass ich die Sonnenbrille nicht abgenommen hatte, als ich den Sender betrat, jedenfalls bewies ich mal wieder, dass meine Tollpatschigkeit auch mit dem Alter nicht abnahm. Ich knallte frontal mit Ole zusammen. Beziehungsweise wir. Waltraud und ich.
»Na, ihr beiden Unzertrennlichen. Geht ihr eigentlich auch zusammen laufen?«
Und dann bekam ich den Beweis geliefert, dass es Vorteile hatte, wenn man erst dachte und dann redete.
»Laufen? Ja, klar. Regelmäßig.«
Ich spürte, wie meine Nase langsam, aber schmerzhaft länger wurde. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie
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