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Kein Kind ist auch (k)eine Lösung

Kein Kind ist auch (k)eine Lösung

Titel: Kein Kind ist auch (k)eine Lösung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Wolf
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war in einer Wohnung aufgewachsen. Einer schönen, wie ich als Kind fand, im Hochparterre mit großem Balkon zu einem Innenhof, in dem wir die meiste Zeit spielten. Manchmal kletterten wir heimlich auf die Balkone der anderen Wohnungen und guckten durch die Balkontüren in die Räume. Nicht einmal wurden wir dabei erwischt. Meine Mutter wunderte sich nur hin und wieder darüber, wie gut ich informiert war, was die Nachbarn betraf.
    Während der Woche gab es Margarine, am Wochenende Butter. Im Sommer war es warm, im Winter lag Schnee. Die Geschenke unterm Weihnachtsbaum waren selbst gemacht: gestrickte Pullover, genähte Kleider, selten etwas Gekauftes. Dazu reichte die Witwenrente meiner Mutter nicht aus. Wenn andere Kinder, die von dem Unfall nichts wussten, fragten, wo mein Vater sei, sagte ich, er sei Akrobat in einem Zirkus und würde ständig rumreisen. Meiner Mutter und mir wollte er das nicht zumuten, daher warteten wir hier auf ihn.
    Das war meine Erinnerung.
    Ich hatte lange genug über akzeptable Ausreden nachgedacht, um nicht zu diesem Familienauflauf fahren zu müssen, doch es sah alles danach aus, als müsste ich da durch. Es nützte nichts. Letztendlich wusste ich ja nur zu gut, warum ich mich drücken wollte. Weil ich auf das treffen würde, was ich nicht hatte: eine Familie. Und das machte mir Angst.
    Während der Fahrt dorthin schwiegen wir. Eine Stunde und fünfzehn Minuten. Premiere. Als wir die Autobahn hinter uns gelassen hatten und Kiel Richtung Ostufer langsam verließen, öffnete ich das Fenster. Waltraud, die zwischen meinen Beinen saß, sprang mir auf den Schoß, um ihre Nase in den Fahrtwind zu stecken. Ihre langen Schlappohren flatterten hin und her wie Fahnen im warmen Wind.
    »Warst du eigentlich schon mal segeln?«
    »Segeln? Nee, bisher noch nicht.«
    »Mein Vater hat ein Boot, mit dem er regelmäßig unterwegs ist, seitdem er nicht mehr arbeitet. Wenn du magst, können wir ja mal mit ihm zusammen rausfahren.«
    Ein Boot. Aha. Das hatte Micha bisher, glaube ich, noch nicht erwähnt. Komisch. Bin ja mal gespannt, dachte ich, was da noch für Überraschungen kommen.
    Die Straße verengte sich von vier Spuren auf zwei. Es wurde grüner. Aus Mehrfamilienhäusern wurden Einfamilienhäuser. Die Straße machte großzügige Bögen, führte leicht bergab, und schließlich bog Micha links in einen Waldweg.
    »Das ist Mönkeberg!«, sagte er feierlich, während er aus dem Fenster sah, als wollte er sich vergewissern, dass alle Büsche und Bäume noch da standen, wo sie sich zuletzt befunden hatten.
    Ich spürte, wie sehr er sich freute. Interessant, dachte ich. So kann es also auch gehen.
    Nach ein paar hundert Metern endete das Wäldchen. Rechts und links von uns lagen jetzt leicht hügelige Rasenflächen. Meine Herren, wer hatte denn hier Rasen gemäht?, dachte ich und begriff erst, als ich das erste Sandloch entdeckte: eine Golfanlage.
    »Die Bälle sind regelmäßig bei uns übers Haus und dann in den Teich geflogen. Ich hab sie rausgefischt, gereinigt und verkauft. Das war richtig lukrativ«, meinte Micha, und ich versuchte mir nicht vorzustellen, was passierte, wenn man so einen Golfball an den Kopf bekäme. Kurz hinter den perfekten Golfrasenflächen standen wieder Häuser.
    Vor einer alten Buchsbaumhecke, hinter der ein großer gelber Klinker aus den 70er-Jahren stand, hielt er an. Braune Holzfensterrahmen, anscheinend ausgebauter Dachboden, Garage, Carport inklusive Audi-Kombi. Und vermutlich irgendwo ein Apfelbäumchen – wie idyllisch.
    Die Haustür öffnete sich. Eine schlanke, braun gebrannte, ältere Frau mit grau-weißem, hochgestecktem, dünnem Haar, Mitte sechzig vielleicht, der man ansah, wie attraktiv sie einmal gewesen sein musste, öffnete die Tür. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm aus Wolle, und rechts und links zu ihren Füßen standen ihre Möpse, um den Hals je eine hellblaue und eine roséfarbene Schleife.
    Ich sah an mir hinab.
    Cargohose, braune Sandalen, weißes T-Shirt mit Strickjacke, dreckiger Hund.
    »Warum hast du mir das nicht gesagt?«, fragte ich.
    »Was?«
    »Das«, erwiderte ich und zeigte unauffällig auf seine adrette Mutter, die aussah, als erwartete sie den Papst.
    »Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich mir auch ganz gerne etwas anderes angezogen«, zischte ich, bevor ich aus dem Wagen stieg.
    »Be yourself. Everybody else is already taken«, meinte Micha nur.
    »Danke. Da hilft auch Oscar Wilde nicht weiter. Außerdem klang das vor ein paar Stunden

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