Kein Kinderspiel
Knoten entweder auf den Storrow Drive abbiegen, die North Beacon herunterfahren oder auf den Mass Pike in östliche oder westliche Richtung fahren konnte.
Ich mußte mir den Hals verrenken, um den Volvo gerade noch zu entdecken, als er unter einer Laterne fuhr. Er war auf dem Weg zu den Zahlstellen auf dem Pike in westlicher Richtung.
Ich zwang mich, langsamer zu fahren, und passierte die Zahlstelle ungefähr eine Minute nach ihm. Etwa zwei Meilen später hatte ich seinen Volvo wieder eingeholt. Er fuhr auf der linken Spur mit ungefähr sechzig Meilen pro Stunde. Ich blieb zirka hundert Meter hinter ihm zurück und paßte mich seiner Geschwindigkeit an.
Die Polizisten von Boston müssen im weiteren Einzugsgebiet der Stadt wohnen, aber ich kenne einige, die diese Regelung umgehen, indem sie ihre Wohnungen in Boston an Freunde oder Verwandte untervermieten und selbst weiter draußen wohnen.
Auch Broussard lebte weiter draußen. Nach mehr als einer Stunde - wir hatten die Schnellstraße verlassen und waren schon über unzählige dunkle, schmale Landstraßen gefahren - landeten wir schließlich in der Stadt Sutton, die sich in den Schatten des Naturschutzgebiets Purgatory Chasm drückte und tatsächlich näher an den Grenzen zu Rhode Island und Connecticut lag denn an Boston.
Als Broussard in eine steile Zufahrt abbog, die zu einem kleinen braunen Cape-Cod-Haus hinaufführte, das hinter Büschen und kleinen Bäumen versteckt war, fuhr ich weiter bis zur nächsten Querstraße, wo die Hauptstraße vor einem hochaufragenden Kiefernwald endete. Ich wendete, und die Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit, die hier viel tiefer war als in der Stadt. Fast erwartete ich, daß im Lichtstrahl plötzlich Tiere auftauchten, die auf Futtersuche durch die Nacht stöberten und mir mit ihren glühenden grünen Augen einen Mordsschreck einjagten.
Ich fuhr zurück und fand das Haus wieder, rollte jedoch noch achtzig Meter weiter, bis meine Scheinwerfer ein Haus mit geschlossenen Fensterläden beleuchteten. Ich bog auf die Zufahrt ab, die mit dem Mulch des letzten Herbstlaubs bedeckt war, und parkte den Crown Victoria hinter einer Baumgruppe. Die einzigen Geräusche an diesem Ort, diesem Nabel der Stille, machten die Grillen und der in den Bäumen raschelnde Wind.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, starrten mich zwei wunderschöne braune Augen an. Sie waren weich, traurig und so tief wie die Schächte einer Kupfermine. Sie blinzelten nicht.
Ich zuckte ein wenig zusammen, als die lange, weißbraune Nase am Fenster schnupperte, und meine Bewegung irritierte das neugierige Tier. Bevor ich mir ganz sicher war, das Reh gesehen zu haben, hoppelte es schon über das Gras zu den Bäumen. Der weiße Spiegel blitzte noch einmal zwischen den Baumstämmen auf, dann war es verschwunden.
»Junge!« stieß ich aus.
Wieder blitzte etwas Buntes auf, diesmal hinter der Baumgruppe direkt vor mir. Es war gelbbraun, und durch eine Lücke zwischen den Stämmen konnte ich erkennen, daß Broussards Volvo auf der Straße vorbeifuhr. Ich wußte nicht, ob er nur kurz Milch holte oder auf dem Weg zur Arbeit in Boston war, doch wollte ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Ich holte ein Set mit Dietrichen aus dem Handschuhfach, hing mir meinen Fotoapparat über die Schulter, strich mir durch die Haare und stieg aus. Ich ging die Straße hinauf, hielt mich am unbefestigten Straßenrand und genoß den ersten warmen Tag des Jahres unter einem so frischen blauen Himmel ohne Abgase, daß es mir schwerfiel zu glauben, daß ich mich noch in Massachusetts befand.
Als ich mich der Zufahrt zu Broussards Haus näherte, trat eine große, schlanke Frau mit langem braunem Haar hinter einer breiten Kiefer hervor. Sie hielt einen kleinen Jungen an der Hand und beugte sich mit ihm zu einer Zeitung, die er aufhob und ihr reichte.
Ich war schon zu nah, um mich umzudrehen. Sie sah hoch, schirmte die Augen mit der Hand ab und lächelte mir unsicher zu. Das Kind an ihrer Hand war vielleicht drei Jahre alt, und mit seinem blonden Flaar und der hellen Haut sah es weder der Frau noch Broussard ähnlich.
»Hallo!« Die Frau erhob sich. Sie setzte sich den Jungen auf die Hüfte. Er lutschte am Daumen.
»Hallo.«
Sie war auffallend hübsch. Der breite Mund war leicht schief, links zog er sich ein wenig höher, aber das wirkte irgendwie sinnlich, wie der Anflug eines Lächelns, das alle Illusionen aufgegeben hatte. Nach einem nur flüchtigen Blick auf ihren Mund,
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