Kein Kinderspiel
die Wangenknochen und auf die goldglänzende Haut hätte ich sie ohne weiteres für ein ehemaliges Model gehalten, das sich ein Banker wie eine Trophäe hielt.
Dann sah ich ihr in die Augen. Ihr intelligenter, kalter, harter Ausdruck ließ mich mein Urteil revidieren. Diese Frau würde sich niemals von einem Mann vorführen lassen. Ich war mir sogar sicher, daß diese Frau überhaupt nichts mit sich machen ließ, was sie nicht wollte.
Sie bemerkte den Fotoapparat. »Vögel?«
Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Nein, Natur allgemein. Wo ich herkomme, gibt’s nicht viel davon.«
»In Boston?«
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Providence.«
Sie nickte, warf einen kurzen Blick auf die Zeitung und schüttelte das Tauwasser ab. »Früher wurden sie immer in Plastik gepackt, damit sie nicht naß werden«, sagte sie. »Jetzt muß ich sie eine Stunde ins Badezimmer hängen, bevor ich die Titelseite lesen kann.«
Der Junge auf ihrer Hüfte lehnte den Kopf schläfrig an ihre Schulter und starrte mich mit seinen himmelblauen Augen an.
»Was ist los, mein Schatz?« Sie küßte ihn auf den Kopf. »Müde?« Zärtlich strich sie ihm über das leicht rundliche Gesicht. Die Liebe in ihren Augen war greifbar, sie machte mir angst.
Als sie wieder zu mir herübersah, entschwand die Liebe, und für einen Moment spürte ich ihre Angst oder ihren Argwohn. »Da drüben ist ein Wald.« Sie wies die Straße herunter. »Da unten. Er gehört zum Naturschutzgebiet Purgatory Chasm. Da können Sie bestimmt ein paar schöne Bilder machen.«
Ich nickte. »Hört sich gut an. Danke für den Tip.«
Vielleicht hatte das Kind etwas gespürt. Vielleicht war es auch nur müde. Vielleicht war es nur ein kleiner Junge, der tat, was kleine Kinder gerne tun, denn er öffnete plötzlich den Mund und heulte.
»Oh, oh.« Sie lächelte, küßte ihn wieder auf den Kopf und schaukelte ihn auf der Hüfte. »Schon gut, Nicky. Ist schon gut. Komm, Mommy macht dir etwas zu trinken.«
Sie ging die Auffahrt hoch zum Haus, wippte den Jungen auf der Hüfte, streichelte ihm das Gesicht. Ihr schlanker Körper in dem schwarzroren Holzfällerhemd und der Jeans bewegte sich wie der einer Tänzerin.
»Viel Erfolg mit der Natur!« rief sie mir über die Schulter nach.
»Danke.«
Sie bog um die Kurve und verschwand mit dem Kind hinter dem Gebüsch, das das Haus von der Straße abschirmte.
Aber ich konnte sie noch hören.
»Nicht weinen, Nicky. Mommy hat dich lieb. Mommy paßt auf, daß alles gut wird.«
»Also gut, er hat einen Sohn«, sagte Ryerson. »Ja, und?«
»Hab ich noch nicht gewußt«, erklärte ich.
»Ich auch nicht«, bestätigte Angie, »und wir haben letztes Jahr im Oktober eine Menge Zeit mit ihm verbracht.«
»Ich habe einen Hund«, sagte Ryerson. »Das habt ihr bis jetzt auch noch nicht gewußt, oder?«
»Wir kennen Sie auch noch keinen ganzen Tag«, erwiderte Angie. »Und ein Hund ist kein Kind. Wenn sie einen Sohn haben und oft mit Leuten unterwegs sind, dann reden sie irgendwann von ihm. Von seiner Frau hat er oft gesprochen. Nichts Besonderes, einfach nur ich muß meine Frau anrufen oder meine Frau bringt mich um, wenn ich wieder nicht zum Essen komme und so weiter. Aber kein einziges Mal hat er von einem Kind erzählt.«
Ryerson sah mich im Rückspiegel an. »Was halten Sie davon?«
»Ich finde es komisch. Kann ich mal kurz Ihr Telefon benutzen?«
Er reichte es mir. Ich wählte und betrachtete dabei den Antiquitätenladen von Ted Kenneally, in dessen Fenster ein Schild mit der Aufschrift GESCHLOSSEN hing.
»Detective Sergeant Lee«, meldete sich Oscar.
»Hallo, Oscar«, grüßte ich ihn.
»Hey, unser Footballstar! Wie geht’s deinen Knochen?«
»Tun weh«, antwortete ich, »höllisch weh.«
Seine Stimme veränderte sich. »Wie sieht’s mit der anderen Sache aus?«
»Also, da hätte ich eine Frage für dich.«
»So eine Frage, bei der ich meine eigenen Leute verpfeifen muß?«
»Nicht unbedingt.«
»Dann schieß los! Ich sag’ schon, ob sie mir gefällt oder nicht.«
»Broussard ist verheiratet, stimmt das?«
»Ja, mit Rachel.«
»Eine große Brünette?« fragte ich. »Auffallend hübsch?«
»Genau.«
»Und sie haben ein Kind?«
»Wie bitte?«
»Hat Broussard einen Sohn?«
»Nein.«
In meinem Kopf wirbelte etwas herum, und der pochende Schmerz vom gestrigen Fußballspiel verschwand.
»Weißt du das genau?«
»Klar weiß ich das. Kann er gar nicht.«
»Kann er nicht oder wollte er nicht?«
Oscars Stimme
Weitere Kostenlose Bücher