Kein Kinderspiel
Blickfeld.
»Patrick?«
»Hä?«
»Hörst du noch zu?«
»Wenn man schon mal vor Gericht stand, geht das nicht.«
Angie berührte mich am Arm. »Was hast du gerade gesagt?«
Ich hatte nicht gemerkt, daß ich laut gesprochen hatte. »Man bekommt keinen Job bei UPS, wenn man vorbestraft ist.«
Ryerson blinzelte und sah mich an, als müsse er nun ein Thermometer holen und bei mir Fieber messen. »Was für einen Blödsinn reden Sie da?«
Ich blickte wieder kurz hinaus auf die Kneeland Street und sah erst Ryerson und dann Angie an. »Als Lionel das erste Mal bei uns im Büro war, erzählte er, daß er schon mal vor Gericht gestanden hätte - und zwar wegen einer größeren Sache -, bevor er sein Leben in den Griff bekam.«
»Ja, und?« fragte Angie.
»Wenn er also schon mal angeklagt war, müßte das irgendwo vermerkt sein. Und wenn das irgendwo steht, wie kann er dann einen Job bei UPS haben?«
Ryerson sagte: »Ich verstehe nicht…«
»Pssst.« Angie hob die Hand und sah mir in die Augen. »Glaubst du, Lionel…«
Ich rutschte hin und her und schob den kalten Kaffee von mir weg. »Wer hatte Zugang zu Helenes Wohnung? Wer konnte die Tür mit einem Schlüssel öffnen? Mit wem würde Amanda ohne weiteres, ohne einen Aufstand oder Lärm zu machen, mitgehen?«
»Aber er hat sich doch an uns gewandt!«
»Nein«, widersprach ich. »Das hat seine Frau getan. Er meinte immer nur: >Danke, daß ihr uns zuhört, blablabla.< Der wollte uns so schnell wie möglich loswerden. Beatrice hat Druck gemacht. Weißt du noch, was sie gesagt hat, als sie bei uns im Büro war? >Keiner wollte, daß ich herkomme. Helene nicht und mein Mann auch nicht.< Beatrice hat einfach nicht lockergelassen. Und Lionel, er liebt seine Schwester, ja. Aber ist er denn blind? Er ist doch nicht blöd. Wieso weiß er nicht, daß Helene mit Cheese zu tun hat? Wieso weiß er nicht, daß sie mit Drogen zu tun hat? Als er hörte, daß sie zwischendurch snieft, ist ihm die Kinnlade heruntergefallen. Das kann doch nicht sein! Ich rede höchstens einmal pro Woche mit meiner Schwester und sehe sie nur einmal im Jahr, aber ich wüßte, wenn sie mit Drogen zu tun hätte. Ist ja schließlich meine Schwester.«
»Was meinten Sie denn mit dieser Anklage?« fragte Ryerson. »Was hat das mit dem Rest zu tun?«
»Sagen wir mal, daß Broussard ihn damals festgenommen hat, ihn an der Angel hatte. Dann war ihm Lionel etwas schuldig. Kann doch sein?«
»Aber warum sollte Lionel seine eigene Nichte entführen? «
Ich dachte darüber nach. Ich schloß die Augen, bis ich Lionel vor mir sah. Das Basset-Gesicht mit den traurigen Augen, die Schultern, auf denen das Gewicht der ganzen Stadt zu lasten schien, die gequälte Anständigkeit in seiner Stimme -die Stimme eines Mannes, der nicht verstehen konnte, warum Menschen solch üble Dinge taten und ihre Pflichten vernachlässigten. Ich erinnerte mich an den selbstgerechten Zorn in seiner Stimme, als er Helene an dem Morgen, als wir sie mit ihrer Verbindung zu Cheese konfrontierten, in der Küche angeschrien hatte. An den Anflug von Haß in seiner lauten Stimme. Er hatte uns erzählt, daß Helene ihr Kind seiner Meinung nach liebte, daß sie sich gegenseitig Halt gaben. Aber wenn er gelogen hatte? Wenn er eigentlich vom Gegenteil überzeugt war? Wenn er von den Muttergefühlen seiner Schwester noch weniger hielt als seine eigene Frau? Als Kind von Alkoholikern und schlechten Eltern hatte er gelernt, seine Gefühle zu verstecken, seine Wut zu überspielen. Er hatte gar keine andere Wahl gehabt, damit er so ein Mensch und so ein Vater hatte werden können, der er nun war.
»Was wäre, wenn«, dachte ich laut, »Amanda McCready gar nicht von jemandem entführt wurde, der sie benutzen oder mißbrauchen oder als Köder einsetzen wollte?« Ich sah in Ryersons leicht skeptisches Gesicht, dann in Angies neugierige, aufgeregte Augen. »Was wäre, wenn Amanda McCready zu ihrem eigenen Besten entführt wurde?«
Ryerson sprach vorsichtig und langsam. »Sie meinen, der Onkel hat das Kind entführt…«
Ich nickte. »… um es zu retten.«
31
»Lionel ist nicht da«, sagte Beatrice. »Nicht da?« fragte ich. »Wo ist er denn?
«In North Carolina«, antwortete sie. Sie trat einen Schritt zurück. »Kommt doch rein!«
Wir folgten ihr ins Wohnzimmer. Ihr Sohn Matt sah auf, als wir eintraten. Er lag bäuchlings mitten im Zimmer auf dem Boden und malte mit Unmengen von Buntstiften, Bleistiften und Kreidestiften auf einen Block. Er war
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