Kein Kinderspiel
wurde ein wenig dumpfer. Ich merkte, daß er die Sprechmuschel mit der Hand abschirmte. Er flüsterte: »Rachel ist unfruchtbar. Das war ein Riesenproblem für die beiden. Sie wollten unbedingt Kinder haben.«
»Warum haben sie keins adoptiert?«
»Wer läßt eine Exnutte schon Kinder adoptieren?«
»Sie war im Gewerbe?«
»Ja, da hat er sie doch kennengelernt. Damals war er noch bei der Mordkommission, Mann, genau wie ich. Seine Karriere ging den Bach runter, und er kam zum Rauschgift, bis Doyle ihn dort rausholte. Aber er liebt sie. Sie ist auch eine feine Frau. Eine Superfrau.«
»Aber kein Kind.«
Er sprach wieder normal. »Wie oft soll ich dir das noch sagen, Kenzie. Nein, kein verfluchtes Kind.«
Ich bedankte und verabschiedete mich. Dann reichte ich das Telefon an Ryerson zurück.
»Er hat keinen Sohn«, sagte Ryerson. »Hab’ ich recht?«
»Aber ich hab’ einen gesehen«, widersprach ich. »Das ist sein Sohn.«
»Wo hat er ihn dann her?«
Und da ergab plötzlich alles einen Sinn, als ich dort auf dem Rücksitz von Ryersons Wagen saß und Kenneallys Antiquitätenladen beobachtete.
»Was wollen wir wetten«, sagte ich, »daß die leiblichen Eltern von Nicholas Broussard, wer sie auch sind, ihren Job nicht gerade gut gemacht haben?«
»Heilige Scheiße!« stieß Angie aus.
Ryerson lehnte sich über das Lenkrad und starrte mit einem ausdruckslosen, betäubten Blick durch die Windschutzscheibe. »Heilige Scheiße!«
Ich dachte an den blonden Jungen, der auf Rachel Broussards Hüfte saß, an die Bewunderung, mit der sie ihm über das kleine Gesichtchen gestrichen hatte.
»Ja«, sagte ich. »Heilige Scheiße.«
32
Am Ende eines Apriltages, wenn die Sonne untergegangen, die Nacht aber noch nicht angebrochen ist, hüllt sich die Stadt in ein stummes, unbestimmtes Grau. Wieder neigt sich ein Tag dem Ende zu, wie immer schneller als erwartet. Fenster erleuchten in einem gedämpften Gelb oder Orange, Autos schalten die Scheinwerfer an, und die nahende Dunkelheit verspricht, bitter kalt zu werden. Es spielen keine Kinder mehr auf der Straße, sie waschen sich vor dem Abendessen Hände und Gesicht, schalten den Fernseher ein. Supermärkte und Spirituosenläden sind so gut wie leer. Blumenläden und Banken sind geschlossen. Nur noch gelegentlich hupt ein Auto; ein Ladengitter fällt ratternd nach unten. Und wenn man die Gesichter der Fußgänger und der vor den Ampeln haltenden Autofahrer genau betrachtet, sieht man, wie die unerfüllten Versprechen des Morgens ihre Mienen nach unten ziehen. Dann fahren sie weiter oder trotten nach Hause - was immer das für sie bedeutet.
Es war schon fast fünf Uhr, als Lionel und Ted Kenneally zurückkehrten. Als Lionel uns näher kommen sah, änderte sich sein Gesichtsausdruck. Und als Ryerson seine Plakette hervorholte und sagte: »Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen, Mr. McCready«, wurde seine Miene noch hoffnungsloser.
Er nickte mehrmals, wohl mehr zu sich als zu uns, und sagte: »Die Straße hoch ist eine Kneipe. Sollen wir dahin gehen? Ich will das nicht zu Hause machen. Bis später, Ted.«
Das Edmund Eitzgerald war so klein, daß es wohl nur mit Glück noch eine Kneipe geworden war und kein Schuhputzerstand. Beim Eintreten erblickten wir eine kleine Fläche zu unserer Linken, die Platz für höchstens vier Tische bot. Vor dem einzigen Fenster erstreckte sich der Tresen. Unklugerweise war zusätzlich eine Musikbox hineingequetscht worden, so daß nur noch zwei Tische Platz fanden. Sie waren beide leer. An der Theke selbst konnten sieben, höchstens acht Leute sitzen, und an der Wand gegenüber standen noch einmal sechs Tische. Am hinteren Ende wurde der Raum wieder ein bißchen breiter. Dort warfen Dartspieler ihre Geschosse über einen Billardtisch, der so nah an der Wand stand, daß die Spieler auf drei von vier Seiten einen kurzen Queue benutzen mußten. Oder einen Bleistift.
Wir setzten uns an einen der beiden Tische mitten im Raum, und Lionel fragte: »Haben Sie sich am Bein verletzt, Miss Gennaro?«
Angie antwortete: »Wird schon wieder«, und holte ihre Zigaretten aus der Tasche.
Lionel sah mich an, doch als ich seinem Blick auswich, fielen seine Schultern noch weiter nach vorne. Zu den Felsblökken, die er immer mit sich herumtrug, kamen jetzt noch ein paar Wackersteine.
Ryerson legte einen Notizblock offen auf den Tisch und zog die Kappe von einem Filzschreiber. »Ich bin Spezialagent Neal Ryerson, Mr. McCready. Ich arbeite im
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