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Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Justizministerium.«
    »Wie bitte, Sir?« fragte Lionel.
    Ryerson klimperte mit den Augen. »Doch, doch, Mr. McCready. Bei der Bundesregierung. Sie sind uns einige Erklärungen schuldig. Meinen Sie nicht?«
    »Worüber?« Lionel sah sich in der Kneipe um.
    »Über Ihre Nichte«, antwortete ich. »Wirklich, Lionel, die Zeit der Lügen ist vorbei.«
    Er sah kurz nach rechts zur Theke, als säße dort jemand, der ihm helfen könne.
    »Mr. McCready«, fuhr Ryerson fort, »wir können jetzt die nächste halbe Stunde Hab-ich-nicht-gemacht, Hast-du-wohl-gemacht spielen, aber damit würden wir alle nur viel Zeit verschwenden. Wir wissen, daß Sie an der Entführung Ihrer Nichte beteiligt waren und daß Sie mit Remy Broussard zusammengearbeitet haben. Ihn wird es übrigens besonders hart treffen, so hart es nur geht. Und Sie? Ich biete Ihnen die Möglichkeit an, sich alles von der Seele zu reden, vielleicht läßt der Richter dafür Nachsicht walten.« Im Takt einer Uhr klopfte er mit dem Stift auf den Tisch. »Aber wenn Sie mich verarschen, dann gehe ich los und mache es auf die harte Tour. Und dann schmoren Sie so lange im Knast, daß Ihre Enkel schon einen Führerschein haben, wenn Sie rauskommen.«
    Die Kellnerin kam und nahm die Bestellungen auf: zwei Cola, ein Wasser für Ryerson und einen doppelten Scotch für Lionel.
    Während wir auf die Getränke warteten, sprach niemand. Ryerson tippte weiterhin mit seinem Stift wie ein Metronom auf die Tischkante und hielt den emotionslosen Blick auf Lionel gerichtet.
    Lionel schien das nicht zu bemerken. Er starrte auf den Untersetzer vor sich, aber ich glaube, er nahm ihn gar nicht wahr; in Wirklichkeit sah er viel weiter, weiter als Tisch und Kneipe. Oberlippe und Kinn waren schweißbedeckt. Ich glaubte zu verstehen, daß er am Ende seines langen, nach innen gerichteten Blickes den traurigen Ausgang seiner Geschichte, sein verschwendetes Leben sah. Er sah das Gefängnis. Er sah, wie ihm die Scheidungspapiere in die Zelle gebracht wurden und die Briefe an seinen Sohn ungeöffnet zurückkamen. Er sah Jahrzehnt auf Jahrzehnt, in dem er allein mit seiner Scham, seiner Schuld oder schlicht allein mit seiner Torheit war, daß er etwas Falsches getan hatte, was von der Gesellschaft im Scheinwerferlicht seziert und anschließend der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen wurde. Sein Bild würde in jeder Zeitung sein, sein Name mit Entführung gleichgesetzt werden, sein Leben böte Stoff für Talkshows, Groschenblätter und hämische Witze, an die man sich noch erinnerte, wenn die dazugehörige Geschichte schon längst vergessen war.
    Die Kellnerin brachte unsere Getränke, und Lionel begann: »Vor elf Jahren war ich mit ein paar Freunden in einer Kneipe in der Innenstadt. Es kamen ein paar Männer herein, die Junggesellenabschied feierten, alle richtig betrunken. Einer von denen war auf eine Schlägerei aus. Er hatte es auf mich abgesehen. Ich schlug ihn. Einmal. Aber er fiel hin und brach sich den Schädel an. Bloß hatte ich ihn nicht mit der Faust geschlagen. Ich hatte einen Queue in der Hand.«
    »Angriff mit einer tödlichen Waffe«, sagte Angie.
    Er nickte. »Es war sogar noch schlimmer. Der Typ hatte mich geschubst, und ich hatte gesagt - ich kann mich zwar nicht mehr daran erinnern, aber es muß wohl stimmen -, ich hatte gesagt: Hau ab oder ich bring dich um.«
    »Vorsätzlicher Mord«, bemerkte ich.
    Er nickte wieder. »Ich wurde vor Gericht gestellt. Die Aussage meiner Freunde stand gegen die Aussage seiner Freunde. Und ich wußte, ich komme in den Knast, weil der Kerl, den ich geschlagen hatte, ein Student vom College war. Und nachdem er hingefallen war, konnte er angeblich nicht mehr lernen, weil er sich nicht mehr konzentrieren konnte. Er hatte ein paar Ärzte, die behaupteten, er hätte einen Hirnschaden. So wie der Richter mich ansah, wußte ich, daß ich ausgespielt hatte. Aber ein Mann, der an dem Abend in der Kneipe war und den keiner von uns kannte, sagte aus, daß der Typ, den ich geschlagen hatte, gesagt habe, er wolle mich umbringen, und daß er mit dem Schlagen angefangen habe und so weiter. Ich wurde freigesprochen, weil dieser Fremde ein Polizist war.«
    »Broussard.«
    Er warf mir ein verbittertes Lächeln zu und nippte am Scotch. »Ja. Broussard. Und wißt ihr was? Er hat oben im Zeugenstand gelogen. Ich weiß vielleicht nicht mehr so richtig, was mein Gegner alles gesagt hat, aber ich weiß ganz genau, daß ich ihn zuerst geschlagen habe. Warum, weiß ich

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