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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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umgehen sollte. Unterwegs auf dem New Jersey Turnpike hatte mein Gehirn auf Autopilot geschaltet, während ich die verfallenden Industrieanlagen
betrachtete. Anders wäre ich überhaupt nicht mehr klargekommen.
    Ken lebte tatsächlich.
    Ich hatte den Beweis gesehen. Er wohnte unter dem Namen Owen Enfield in New Mexico. Einerseits war ich begeistert. Es gab eine Chance auf Erlösung, die Chance, meinen Bruder wiederzusehen, die Chance – ich wagte kaum, daran zu denken –, alles wieder in Ordnung zu bringen.
    Doch dann dachte ich an Sheila.
    Ihre Fingerabdrücke waren im Haus meines Bruders gefunden worden. Zusammen mit zwei Leichen. Was hatte Sheila damit zu tun? Ich hatte keine Ahnung – oder ich wollte das Naheliegende einfach nicht wahrhaben. Sie hatte mich betrogen  – jede Lösung, auf die mein nur sporadisch funktionierendes Gehirn kam, setzte die eine oder andere Form des Betrugs voraus. Und wenn ich anfing, zu sinnieren, wenn ich mir erlaubte, in den einfachen Erinnerungen zu versinken – wie sie die Füße unter sich schob, wenn wir uns auf der Couch unterhielten, wie sie ihre Haare nach hinten warf, als stünde sie unter einem Wasserfall, wie sie nach dem Duschen in ihrem Frottee-Bademantel duftete, wie sie im Herbst in meinen viel zu großen Sweatshirts herumlief, wie sie mir beim Tanzen ins Ohr summte, wie mir der Atem stockte, wenn ich sie von der anderen Seite des Zimmers ansah –, kam ich zu dem Schluss, dass es eine sorgfältig vorbereitete Lüge gewesen sein musste …
    Autopilot.
    Also schleppte ich mich voran und dachte dabei nur an eins: Ich wollte einen Schlussstrich ziehen. Mein Bruder und meine Geliebte hatten mich ohne Vorwarnung verlassen. Ich wusste, dass ich das nicht verarbeiten konnte, solange ich nicht die ganze Wahrheit kannte. Squares hatte mich gleich zu Anfang
gewarnt, dass mir das, was ich fand, womöglich nicht gefallen würde, doch im Endeffekt war es wohl unvermeidbar gewesen. Vielleicht war es jetzt an mir, tapfer zu sein. Vielleicht musste ich diesmal Ken retten, statt mich von ihm retten zu lassen.
    Ich konzentrierte mich also auf wenige Details: Ken lebte. Er war unschuldig – falls ich im Unterbewusstsein vielleicht noch gewisse Zweifel gehegt hatte, waren sie durch Pistillos Verhalten zerstreut worden. Ich konnte ihn wiedersehen und mit ihm zusammen sein. Ich konnte – was weiß ich – die Vergangenheit Vergangenheit sein und meine Mutter in Frieden ruhen lassen oder so.
    Heute, am letzten Tag der Totenwache, war mein Vater nicht zu Hause. Tante Selma war in der Küche. Sie sagte, er sei spazieren gegangen. Tante Selma trug eine Schürze. Ich fragte mich, woher sie sie hatte. Von uns nicht. Wir besaßen keine. Hatte sie sie mitgebracht? Sie schien immer eine Schürze zu tragen, selbst wenn sie keine trug. Ich sah zu, wie sie die Spüle putzte. Selma, Sunnys stille Schwester, arbeitete ruhig vor sich hin. Ich hatte sie nie richtig wahrgenommen. Das ging wohl vielen Leuten so. Selma war einfach nur da. Sie gehörte zu den Menschen, die so unscheinbar lebten, dass das Radar sie nicht erfasste, als hätte sie Angst, zu viel Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen. Sie und Onkel Murray hatten keine Kinder. Ich weiß nicht, warum, habe aber einmal gehört, wie sich meine Eltern über eine Totgeburt unterhielten. Ich stand da und beobachtete sie, als wäre es das erste Mal, dass ich einem Mitmenschen bei dem Versuch zusah, das Richtige zu tun.
    »Danke«, sagte ich.
    Selma nickte.
    Ich wollte ihr sagen, dass ich sie liebte und schätzte und es schön fände, wenn wir näher zusammenrücken würden, besonders
jetzt, wo Mom tot war, und dass Mom es sicher so gewollt hätte. Aber ich konnte nicht. Stattdessen umarmte ich sie. Selma erstarrte kurz, erschrak über meine befremdliche Zurschaustellung von Gefühlen, doch dann entspannte sie sich.
    »Es wird schon wieder«, sagte sie.
    Ich kannte den Lieblingsspazierweg meines Vaters. Ich überquerte die Coddington Terrace und mied das Haus der Millers. Ich wusste, dass mein Vater es ebenso machte. Er nahm schon seit Jahren einen anderen Weg. Ich ging über die Grundstücke der Jarats und der Arnays und nahm dann den kleinen Weg, der über den Meadowbrook zu den Little League -Softballfeldern führte. Die Felder waren leer, die Saison war vorbei, und mein Vater saß allein in der obersten Reihe der kleinen Stahltribüne. Ich erinnerte mich, wie gerne er Trainer gewesen war, wie er in seinem weißen T-Shirt mit dem

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