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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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hätte er seine Seefestigkeit zurückgewonnen.
    Als ich fertig war, fragte Dad: »Wie lange lebt er schon da draußen?«
    »Erst seit ein paar Monaten. Wieso?«
    »Deine Mutter hat gesagt, er kommt zurück. Er kommt zurück, wenn er seine Unschuld bewiesen hat.«
    Wir saßen schweigend da. Ich ließ meine Gedanken schweifen. Nehmen wir an, dachte ich, es ist ungefähr so gelaufen: Vor elf Jahren wurde Ken der Mord angehängt. Er ist abgehauen und hat im Ausland gelebt – im Untergrund oder so, wie sie in den Nachrichten erzählt haben. Jahre vergehen. Er kommt nach Hause.
    Warum?
    Um seine Unschuld zu beweisen, wie meine Mutter gesagt hatte? Das klang schon plausibel, aber warum jetzt? Ich wusste es nicht, doch aus welchem Grund auch immer, offenbar war Ken tatsächlich zurückgekommen – und der Schuss war nach hinten losgegangen. Irgendjemand hatte ihn entdeckt.
    Wer?
    Die Antwort schien auf der Hand zu liegen: Julies Mörder. Diese Person, ob Mann oder Frau, musste Ken zum Schweigen bringen. Und dann? Keine Ahnung. Es fehlten immer noch zu viele Puzzleteile.
    »Dad?«
    »Ja.«

    »Hast du je daran gedacht, dass Ken noch am Leben sein könnte?«
    Er ließ sich Zeit. »Es war leichter, zu glauben, dass er tot ist.«
    »Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
    Er sah in die Ferne. »Ken hat dich so geliebt, Will.«
    Ich sagte nichts.
    »Aber man konnte sich nicht hundertprozentig auf ihn verlassen.«
    »Ich weiß«, sagte ich.
    Er ließ das sacken. »Als Julie ermordet wurde«, sagte mein Vater, »da hat Ken schon in Schwierigkeiten gesteckt.«
    »Wie meinst du das?«
    »Er war nach Hause gekommen, um sich zu verstecken.«
    »Vor wem?«
    »Keine Ahnung.«
    Ich dachte darüber nach. Wieder fiel mir ein, dass er vorher zwei Jahre lang nicht zu Hause gewesen war, und wie gereizt er gewirkt hatte, selbst als er sich nach Julie erkundigt hatte. Mir war bloß nicht klar gewesen, was das alles bedeutete.
    Dad sagte: »Erinnerst du dich an Phil McGuane?«
    Ich nickte. Kens alter Freund von der High School. Der »Anführer der Klasse«, der angeblich Verbindungen zur Mafia haben sollte. »Er soll in die Bonanno-Villa gezogen sein.«
    »Das stimmt.«
    In meiner Kindheit hatten die Bonannos, eine der berüchtigten alten Mafia-Familien, auf dem größten Landgut in Livingston gewohnt. Es war mit einem schweren, schmiedeeisernen Tor versperrt gewesen, und an der Zufahrt wachten zwei steinerne Löwen. Es ging das Gerücht – wie Sie vielleicht schon vermutet haben, ist die Gerüchteküche in Suburbia von zentraler Bedeutung –, dass auf dem Grundstück Leichen vergraben waren und man den Zaun unter Strom setzen konnte, und dass
Kinder, die durch das Gehölz hinter dem Haus schlichen, eine Kugel in den Kopf bekamen. Ich bezweifle stark, dass auch nur eins dieser Gerüchte der Wahrheit entspricht, aber im Alter von einundneunzig Jahren hatten sie den alten Bonanno dann doch noch verhaftet.
    »Was ist mit ihm?«, fragte ich.
    »Ken hatte irgendwas mit McGuane zu tun.«
    »Was?«
    »Mehr weiß ich auch nicht.«
    Ich dachte an den Ghost. »Hat Asselta da auch mit dringesteckt?«
    Mein Vater erstarrte. Plötzlich lag Angst in seinen Augen. »Warum fragst du das?«
    »Die drei waren auf der High School dicke Freunde«, fing ich an. Dann entschloss ich mich, auch den Rest zu erzählen. »Außerdem hab ich ihn neulich gesehen.«
    »Asselta?«
    »Ja.«
    Er sprach leise. »Er ist wieder da?«
    Ich nickte.
    Dad schloss die Augen.
    »Was ist?«
    »Er ist gefährlich«, sagte mein Vater.
    »Ich weiß.«
    Er deutete auf mein Gesicht. »War er das?«
    Gute Frage, dachte ich. »Na ja, zumindest teilweise.«
    »Teilweise?«
    »Ist’ne lange Geschichte, Dad.«
    Wieder schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, legte er mir die Hand auf den Oberschenkel und stand auf. »Komm, wir gehen heim«, sagte er.
    Ich hatte noch mehr Fragen, wusste aber, dass dies nicht der
richtige Zeitpunkt war. Ich folgte ihm. Es fiel ihm nicht leicht, die wackligen Stufen der Tribüne hinunterzukommen. Ich wollte ihn stützen. Er wehrte ab. Als wir auf dem Kiesboden angekommen waren, drehten wir uns zum Weg um. Und dort stand, die Hände in den Taschen und milde lächelnd, der Ghost.
    Erst hielt ich ihn für ein Hirngespinst und dachte, unser Gespräch hätte dieses Trugbild heraufbeschworen. Doch dann schnappte mein Vater nach Luft. Und ich hörte diese Stimme.
    »Ach, wie rührend«, sagte der Ghost.
    Mein Vater stellte sich vor mich, als wollte er mich

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