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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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abschirmen. »Was willst du?«, rief er.
    Aber der Ghost lachte nur. »Hör zu, mein Sohn, als ich damals im großen Spiel rausgeflogen bin, hab ich mehr als eine ganze Packung Schokoriegel gebraucht, bis es mir besser ging«, spottete er.
    Wir blieben wie angewurzelt stehen. Der Ghost blickte zum Himmel hinauf, schloss die Augen und atmete tief durch. »Ah, die Little League.« Er senkte den Kopf und sah meinen Vater an. »Erinnern Sie sich noch, wie mein Vater mal beim Spiel aufgetaucht ist, Mr Klein?«
    Mein Vater sah ihn mit entschlossener Miene an.
    »Das war erste Sahne, Will. Echt. Ein Klassiker. Mein guter alter Dad war so breit, dass er voll an die Snackbar gepisst hat. Muss man sich mal vorstellen. Ich hab gedacht, Mrs Tansmore fällt gleich tot um.« Er lachte herzlich. Es ging mir durch Mark und Bein. Als er fertig war, ergänzte er: »Waren schöne Zeiten, was?«
    »Was willst du?«, fragte mein Vater noch einmal.
    Aber der Ghost war ins Plaudern gekommen. Er ließ sich nicht vom Thema abbringen. »Sagen Sie, Mr Klein, erinnern Sie sich noch daran, wie Sie das All-Star-Team im Finale der Landesmeisterschaft trainiert haben?«

    Mein Vater sagte: »Ja, ich erinnere mich.«
    »Ken und ich waren in der vierten Klasse, oder?«
    Diesmal sagte mein Vater nichts.
    Der Ghost fauchte: »Ach, Moment.« Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. »Das hätte ich fast vergessen. Die vierte Klasse hab ich ja verpasst, stimmt’s? Und die fünfte auch. Ich war im Gefängnis, wissen Sie noch?«
    »Du warst nie im Gefängnis«, sagte mein Vater.
    »Stimmt, da haben Sie völlig Recht, Mr Klein. Man hat mich …«, der Ghost malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, »eingewiesen. In eine Anstalt. Weißt du, was das heißt, Willie-Boy? Sie sperren ein Kind mit den verkommensten Kretins zusammen, die je ihren Fuß auf diesen elenden Planeten gesetzt haben. Es soll da zu einem besseren Menschen werden. Mein erster Zimmergenosse, Timmy, war Pyromane. Timmy hatte im zarten Alter von dreizehn Jahren seine Eltern umgebracht, indem er sie in Brand gesteckt hat. Eines Nachts hat er einem besoffenen Pfleger ein Streichholzheftchen gestohlen und mein Bett angezündet. Ich war drei Wochen lang in der medizinischen Abteilung. Fast hätte ich mich selbst in Brand gesetzt, weil ich nicht wieder zurück wollte.«
    Ein Wagen fuhr die Meadowbrook Road entlang. Auf dem Rücksitz thronte ein kleiner Junge hoch in seinem Kindersitz. Es war windstill. Die Bäume rührten sich nicht.
    »Das ist lange her«, sagte mein Vater leise.
    Die Augen des Ghost verengten sich, als dächte er intensiv über die Worte meines Vaters nach. Schließlich nickte er und sagte: »Ja, so ist es. Da haben Sie wohl Recht, Mr Klein. Und es war ja auch nicht so, dass es mir zu Hause besonders gut gegangen wäre. Was hatte ich überhaupt zu erwarten? Man konnte es fast als Segen für mich ansehen: Ich bin in Therapie gekommen, statt bei meinem Vater zu leben, der mich ständig geprügelt hat.«
    Endlich begriff ich, dass er über Daniel Skinner sprach, der damals mit einem Küchenmesser erstochen worden war. Mir fiel allerdings zum ersten Mal auf – und auch das gab mir zu denken  –, dass seine Geschichte stark an die der Kids erinnerte, die wir im Covenant House zu unterstützen versuchen: Misshandlung im Elternhaus, früher Kontakt zu Verbrechen, Psychose. Ich versuchte, den Ghost aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Aber es funktionierte nicht. Er war kein Jugendlicher mehr. Ich weiß nicht, in welchem Alter ein Mensch diese Linie überschreitet, wann er vom Jugendlichen, der Hilfe braucht, zum Degenerierten wird, den man einsperren sollte. Ich weiß nicht einmal, ob das fair ist.
    »Hey, Willie-Boy?«
    Der Ghost versuchte, mir in die Augen zu sehen, doch mein Vater beugte sich zur Seite und schirmte mich so gegen seinen Blick ab. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, um ihn wissen zu lassen, dass ich damit klarkam.
    »Was ist?«, fragte ich.
    »Du weißt doch, dass ich später noch mal …«, wieder die Anführungszeichen mit den Fingern, »… eingewiesen worden bin, oder?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Ich war im letzten College-Jahr. Du im zweiten.«
    »Ich weiß.«
    »Die ganze Zeit, die ich da drin war, hat mich nur ein einziger Mensch besucht. Weißt du, wer das war?«
    Ich nickte. Es war Julie gewesen.
    »Absurd, findest du nicht auch?«
    »Hast du sie umgebracht?«, fragte ich.
    »Nur einer von uns hat Schuld auf sich geladen.«
    Mein

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