Kein Lebenszeichen
Rache verbringen.«
Sie versuchte zu lächeln. »Sie meinen, es geht mir darum?« Sie zeigte auf ihr entstelltes Gesicht. »Sie glauben, ich behalte ihn deshalb hier?«
Wieder war ich verwirrt.
Tanya schüttelte den Kopf. »Hat er Ihnen erzählt, wie er Sheila angeheuert hat?«
Ich nickte.
»Er tut immer so, als hätte er das alles alleine gemacht. Er erzählt von seinen schicken Klamotten und den cleveren Sprüchen. Aber die meisten Mädchen, sogar die, die gerade erst aus dem Bus gestiegen sind, haben Angst, alleine mit einem Mann mitzugehen. Eigentlich war der Unterschied nämlich nur der, dass Louis nicht allein war. Er hatte eine Begleiterin. Die hat ihm geholfen, seine Deals abzuschließen. Durch sie haben sich die Mädchen sicher gefühlt.«
Sie wartete. Ihre Augen waren trocken. Ein Zittern begann tief in mir und erfasste langsam meinen ganzen Körper. Tanya ging zur Tür. Sie öffnete sie für mich. Ich ging und kam nie wieder.
43
Auf meiner Mailbox waren zwei Nachrichten. Die erste stammte von Edna Rogers, Sheilas Mutter. Ihr Tonfall war steif und unpersönlich. Sie teilte mir mit, dass die Beerdigung in zwei Tagen in einer Kapelle in Mason, Idaho, stattfinden sollte. Mrs Rogers gab Zeit und Adressen durch und beschrieb mir den Weg von Boise aus. Ich speicherte die Nachricht.
Die zweite Nachricht war von Yvonne Sterno. Ich sollte sie unbedingt sofort zurückrufen. Aus ihrer Stimme sprach kaum verhohlene Aufregung, und das beunruhigte mich. Ich überlegte, ob sie womöglich herausbekommen hatte, wer Owen Enfield wirklich war – und falls ja, ob das gut oder schlecht war.
Yvonne war schon nach dem ersten Klingeln am Apparat.
»Was gibt’s?«, fragte ich.
»Das ist ’ne ganz große Sache, Will.«
»Ich höre.«
»Hätte uns gleich auffallen müssen.«
»Was denn?«
»Wenn man alles zusammennimmt. Ein Typ unter falschem Namen. Das große Interesse des FBI. Die ganze Geheimniskrämerei. Eine abgelegene Kleinstadt. Können Sie mir folgen?«
»Nein, nicht so recht.«
»Cripco war der Schlüssel«, redete sie weiter. »Wie gesagt, das ist eine Briefkastenfirma. Also hab ich mich ein bisschen umgehört. Eigentlich geben die sich gar keine so große Mühe, sich zu verstecken. Die Tarnung ist nicht sehr sorgfältig aufgebaut. Die denken wohl, wenn jemand den Typen sieht, dann erkennt er ihn oder eben nicht. Da fängt keiner an, die Lebensgeschichte zu überprüfen.«
»Yvonne?«, sagte ich.
»Ja?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Cripco, die Firma, auf die das Haus und das Auto laufen, kann man zum U.S. Marshal’s Office zurückverfolgen.«
Wieder drehte sich alles in meinem Kopf. Ich ließ es zu, und aus dem undurchsichtigen Dunkel tauchte eine strahlende Hoffnung auf. »Moment«, sagte ich. »Heißt das, Owen Enfield ist ein Undercover-Agent?«
»Nein, glaub ich nicht. Was soll er denn in Stonepointe rausfinden – ob jemand beim Rommé schummelt?«
»Was dann?«
»Das U.S. Marshal’s Office – nicht das FBI – ist für das Zeugenschutzprogramm zuständig.«
Noch verwirrender. »Das heißt also, dass Owen Enfield …?«
»Dass die Regierung ihn hier untergebracht hat, ja. Die haben ihm eine neue Identität verschafft. Der Schlüssel ist, wie gesagt, dass sie sich nicht besonders viel Mühe geben. Das wissen viele nicht. Manchmal stellen sie sich sogar richtig blöd an. Mein Gewährsmann bei der Zeitung hat mir von einem schwarzen Drogendealer aus Baltimore erzählt, den sie in einen blütenweißen Vorort von Chicago gesteckt haben. Der totale Reinfall. So war das hier nicht, aber wenn, sagen wir mal, Gotti nach Sammy the Bull suchen würde, dann erkennen die ihn entweder sowieso auf den ersten Blick, oder eben nicht. Sie spionieren dem nicht erst lange hinterher, weil sie hundertprozentig sicher sein wollen. Können Sie mir folgen?«
»Ich denke schon.«
»Also, ich glaube, das ist so gelaufen: Owen Enfield war kein Unschuldslamm. Das gilt für die meisten im Zeugenschutzprogramm. Er lebt also in diesem Programm, und aus irgendeinem Grund bringt er die zwei Typen um und haut ab. Das FBI will nicht, dass sich das rumspricht. Stellen Sie sich vor, wie peinlich das wäre – die Regierung macht einen Deal mit irgendwem, und der legt rechts und links Leute um. Schlechte Presse ohne Ende, klar?«
Ich sagte nichts.
»Will?«
»Ja.«
Eine Gesprächspause entstand. »Sie verschweigen mir was, oder?«
Ich überlegte, was ich tun sollte.
»Na kommen Sie«,
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