Kein Lebenszeichen
Vater trat wieder zwischen uns. »Das reicht«, sagte er.
Ich trat zur Seite. »Was soll das heißen?«
»Du, Willie-Boy. Ich meine dich.«
Ich war verwirrt. »Was?«
»Das reicht«, wiederholte mein Vater.
»Du hättest um sie kämpfen müssen«, fuhr der Ghost fort. »Du hättest sie beschützen sollen.«
Obwohl sie aus dem Munde dieses Irren kamen, bohrten sich die Worte wie ein Eispickel in meine Brust.
»Was willst du hier?«, fragte mein Vater.
»Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen, Mr Klein? Ich weiß es selbst nicht genau.«
»Lass meine Familie in Ruhe. Wenn du jemanden willst, dann nimm mich.«
»Nein, Sir, Sie will ich nicht.« Er sah meinen Vater nachdenklich an, und ich spürte, wie sich in meiner Magengrube etwas zusammenzog. »Ich glaube, Sie gefallen mir so am besten.«
Der Ghost winkte noch kurz zum Abschied und ging Richtung Wald. Wir sahen ihm nach, wie er kleiner wurde und schließlich – wie es sich für einen Geist gehörte – verschwand. Wir blieben noch ein paar Minuten stehen. Ich hörte den hohlen, rasselnden Atem meines Vaters.
»Dad?«
Doch er hatte sich schon in Bewegung gesetzt. »Gehen wir nach Hause, Will.«
42
Mein Vater wollte nicht darüber sprechen.
Als wir wieder zu Hause waren, ging er ins Schlafzimmer, das er vierzig Jahre mit meiner Mutter geteilt hatte, und schloss die Tür hinter sich.
Es stürzte zu viel gleichzeitig auf mich ein. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, doch es gelang mir nicht. Mein Gehirn drohte, ganz abzuschalten. Trotzdem wusste ich nicht genug. Noch nicht. Ich musste noch mehr herausbekommen.
Sheila.
Es gab eine Person, die vielleicht etwas Klarheit in das Rätsel bringen konnte, zu dem die Liebe meines Lebens geworden war. Also entschuldigte und verabschiedete ich mich und fuhr wieder nach Manhattan. Ich nahm die U-Bahn in die Bronx. Es wurde schon langsam dunkel, und ich befand mich nicht in der besten Gegend, aber einmal im Leben hatte ich das Gefühl, dass mir nichts Angst machen konnte.
Noch ehe ich klopfte, wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Die Sicherungskette war allerdings geschlossen. Tanya sagte: »Er schläft.«
»Ich will mit Ihnen reden«, sagte ich.
»Ich habe nichts zu sagen.«
»Sie waren bei der Trauerfeier.«
»Gehen Sie.«
»Bitte«, sagte ich. »Es ist wichtig.«
Tanya seufzte und löste die Kette. Ich schlüpfte hinein. In der Ecke brannte die schwache Lampe. Es war ziemlich düster. Als ich meinen Blick durch das absolut deprimierende Zimmer schweifen ließ, fragte ich mich, ob Tanya hier nicht genauso gefangen war wie Louis Castman. Ich sah sie an. Sie zuckte zurück, als könne mein Blick sie verbrennen.
»Wie lange wollen Sie ihn noch hier behalten?«, fragte ich.
»Ich mache keine Pläne«, sagte sie.
Tanya bot mir keinen Stuhl an. Wir standen einfach da und sahen uns an. Sie verschränkte die Arme und wartete.
»Warum waren Sie bei der Trauerfeier?«, fragte ich.
»Ich wollte ihr die letzte Ehre erweisen.«
»Sie kannten Sheila?«
»Ja.«
»Waren Sie mit ihr befreundet?«
Vielleicht lächelte Tanya. Ich konnte es nicht genau erkennen, weil ihr Gesicht so entstellt war, dass die Narben im Zickzack um ihren Mund herumliefen. »Nein, absolut nicht.«
»Warum sind Sie dann gekommen?«
Sie legte den Kopf schief. »Soll ich Ihnen was Komisches erzählen?«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, nickte dann aber.
»Das war seit sechzehn Monaten das erste Mal, dass ich die Wohnung verlassen habe.«
Ich wusste auch nicht, wie ich darauf antworten sollte, und sagte dann: »Schön, dass Sie da waren.«
Tanya sah mich argwöhnisch an. Abgesehen von ihrem Atem war es still im Zimmer.
Ich weiß nicht, was mit ihr nicht in Ordnung war und ob es mit der brutalen Misshandlung zusammenhing, aber jeder ihrer Atemzüge klang, als wäre ihre Kehle ein dünner Strohhalm, in dem noch ein paar Tropfen Flüssigkeit hingen.
Ich sagte: »Sagen Sie mir bitte, warum Sie gekommen sind.«
»Wie gesagt, ich wollte ihr die letzte Ehre erweisen.« Sie schwieg einen Moment lang. »Und ich dachte, ich könnte vielleicht helfen.«
»Helfen?«
Sie sah zur Tür von Louis Castmans Schlafzimmer hinüber. Ich folgte ihrem Blick. »Er hat mir erzählt, was Sie hier wollten. Ich dachte, ich könnte vielleicht noch ein paar Einzelheiten ergänzen.«
»Was hat er gesagt?«
»Dass Sie Sheila geliebt haben.« Tanya rückte näher an die
Lampe heran. Dann setzte sie sich und forderte mich mit einer
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