Kein Lebenszeichen
viel. Vielleicht müssen wir einfach mal auf unser Herz hören.«
Ich runzelte die Stirn. »Klingt gut, aber ich weiß nicht so recht, was das heißen soll.«
»Dann vielleicht so: Wir erweisen der Sheila, die wir gekannt haben, die letzte Ehre.«
»Auch wenn es bloß eine Lüge war?«
»Auch dann. Aber vielleicht erfahren wir ja sogar etwas. Etwas, das uns hilft, zu verstehen, was hier passiert ist.«
»Hattest du nicht gesagt, dass uns das, was wir rausfinden, womöglich nicht gefallen wird?«
»Hey, stimmt.« Squares wackelte mit den Brauen. »Mann, bin ich gut.«
Ich lächelte.
»Das sind wir ihr schuldig, Will. Ihrem Andenken.«
Da hatte er Recht. Letztlich ging es ums Abschiednehmen. Ich brauchte Antworten. Vielleicht konnte mir auf der Beerdigung jemand welche geben – oder die Beerdigung an sich, das Begräbnis meiner falschen Geliebten, könnte die Heilung befördern. Das hielt ich zwar für unwahrscheinlich, doch ich war bereit, alles zu versuchen.
»Außerdem müssen wir auch an Carly denken.« Squares deutete aus dem Fenster. »Jugendliche retten. Dafür sind wir doch da, oder?«
Ich wandte mich zu ihm. »Genau«, sagte ich. Und dann: »Apropos Kinder.«
Ich wartete. Seine Augen konnte ich nicht sehen – er trug oft nachts eine Sonnenbrille, wie in dem alten Song von Corey Hart –, aber er packte das Lenkrad fester.
»Squares?«
Er sagte knapp: »Wir reden über Sheila und dich.«
»Das ist Vergangenheit. Egal, was wir rauskriegen, es lässt sich nicht mehr ändern.«
»Immer hübsch eins nach dem anderen, okay?«
»Nein, nicht okay«, sagte ich. »Diese Sache mit der Freundschaft ist eigentlich keine Einbahnstraße.«
Er schüttelte den Kopf. Wir schwiegen. Ich sah ihm weiter ins pockennarbige, unrasierte Gesicht. Das Tattoo wirkte irgendwie dunkler. Er biss sich auf die Unterlippe.
Nach einiger Zeit sagte er: »Ich hab Wanda nie was davon erzählt.«
»Dass du ein Kind hast?«
»Einen Sohn«, sagte Squares leise.
»Und wo ist er jetzt?«
Er nahm eine Hand vom Steuer und kratzte sich im Gesicht. Seine Hand zitterte. »Er lag schon unter der Erde, als er noch keine vier Jahre alt war.«
Ich schloss die Augen.
»Er hieß Michael. Damals wollte ich nichts mit ihm zu tun haben. Ich hab ihn nur zweimal gesehen. Ich hab ihn mit seiner Mutter allein gelassen, einem siebzehnjährigen Junkie, der man keinen Hund anvertraut hätte. Als er drei war, ist sie völlig stoned in einen Sattelschlepper gefahren. Beide waren sofort tot. Ich weiß bis heute nicht, ob es Selbstmord war.«
»Es tut mir so Leid«, sagte ich matt.
»Michael wäre jetzt einundzwanzig.«
Hilflos suchte ich nach Worten. Mir fiel nichts ein, aber ich probierte es trotzdem. »Das ist lange her«, sagte ich. »Du warst noch ein halbes Kind.«
»Nicht rationalisieren, Will.«
»Tu ich doch gar nicht. Ich meine ja nur …«, ich hatte keine Ahnung, wie ich es sagen sollte, » … wenn ich ein Kind bekäme, würde ich dich bitten, sein Pate zu werden. Ich würde dich zum Vormund machen, für den Fall, dass mir was passiert. Nicht aus Freundschaft oder Loyalität. Aus reinem Egoismus. Meinem Kind zuliebe.«
Er fuhr weiter. »Es gibt Sachen, die kann man sich nie verzeihen.«
»Du hast ihn nicht umgebracht, Squares.«
»Klar, ich bin total unschuldig.«
Wir hielten an einer Ampel. Er schaltete das Radio ein. Ein Infomercial pries eine Wunderdiätpille an. Er schaltete wieder aus. Er beugte sich vor und legte die Unterarme aufs Lenkrad.
»Wenn ich die Kids da draußen sehe, will ich sie retten. Ich denke immer, wenn ich genug von denen rette … ich weiß auch nicht … dass das für Michael irgendwas ändert. Dass ich ihn vielleicht nachträglich irgendwie retten kann.« Er nahm die Sonnenbrille ab. Seine Stimme wurde härter. »Aber ich weiß genau – und zwar schon immer –, dass ich machen kann, was ich will, ich bin es trotzdem nicht wert, dass man mich rettet.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich versuchte, mir etwas Tröstliches, etwas Erhellendes einfallen zu lassen, oder wenigstens etwas, womit ich ihn ablenken konnte, aber es kam nichts durch. Mir gingen nur ein paar abgedroschene Banalitäten durch den Kopf. Wie die meisten Tragödien erklärte diese vieles und sagte einem doch nichts über den Menschen an sich.
Am Ende sagte ich nur: »Das stimmt nicht.«
Er setzte die Sonnenbrille wieder auf und schaute auf die Straße. Ich sah, wie er sich wieder einigelte.
Ich beschloss, nicht nachzugeben.
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