Kein Lebenszeichen
versuchen. Also willigte ich ein. Als ich aufstand, sagte er: »Ich habe gehört, dass Sheila bald beerdigt wird.«
»Ja.«
»Jetzt, wo Sie nicht mehr unter Anklage stehen, können Sie natürlich verreisen, wohin Sie wollen.«
Ich sagte nichts.
»Fahren Sie hin?«
Diesmal sagte ich die Wahrheit. »Ich weiß es nicht.«
47
Ich konnte nicht zu Hause bleiben und auf wer weiß was warten, also ging ich am nächsten Morgen zur Arbeit. Es war komisch. Ich hatte gedacht, ich würde nur im Weg herumstehen, aber das tat ich gar nicht. Ich betrat das Covenant House – und kann die Erfahrung nur mit einem Sportler vergleichen, der sein »Wettkampfgesicht« aufsetzt, wenn er die Arena betritt. Für diese Kids, sagte ich mir, ist mein Bestes gerade gut genug. Das ist natürlich ein Klischee; ich fand es allerdings überzeugend und ging zufrieden in meiner Arbeit auf.
Natürlich kamen die Leute zu mir und kondolierten. Und natürlich war Sheilas Geist überall. Es gab nur wenige Stellen im Gebäude, die mich nicht an sie erinnerten. Aber ich kam damit klar. Das soll nicht heißen, dass ich sie vergessen hatte oder nicht mehr herausfinden wollte, wo mein Bruder war, wer Sheila ermordet hatte oder was aus ihrer Tochter Carly geworden war. Das alles war noch präsent. Heute konnte ich jedoch nicht viel
tun. Ich hatte bei Katy im Krankenhaus angerufen, doch die Anrufe wurden immer noch abgeblockt. Squares hatte eine Detektei beauftragt, in den Computern der Fluggesellschaften nach Sheilas Pseudonym Donna White zu suchen, aber bisher war nichts dabei herausgekommen. Also wartete ich.
Ich meldete mich freiwillig für die nächtliche Arbeit im Bus. Squares kam mit – ich hatte ihn schon auf den neuesten Stand gebracht –, und gemeinsam verschwanden wir in der Dunkelheit. Hell erleuchtet standen die Straßenkinder im Dunkelblau der Nacht. Ihre Gesichter waren glatt, faltenlos und geschmeidig. Wenn man erwachsene Penner sieht, Bag-Ladys, Männer mit Einkaufswagen, Menschen, die in Pappkartons liegen oder mit Pappbechern in der Hand um Kleingeld betteln, weiß man, dass sie obdachlos sind. Die Halbwüchsigen jedoch, die Fünfzehn-und Sechzehnjährigen, die vor Misshandlungen in die Arme der Sucht, der Prostitution oder des Wahns fliehen, fallen weniger auf. Bei Halbwüchsigen sieht man nicht, ob sie obdachlos sind oder einfach nur unterwegs.
Auch wenn man oft das Gegenteil hört, ist es nicht so einfach, die Notlage erwachsener Obdachloser zu ignorieren. Sie ist zu offensichtlich. Man kann den Blick abwenden, weitergehen und sich ins Gedächtnis rufen, dass sie doch nur Schnaps oder Drogen kaufen, wenn man nachgibt und ihnen einen Dollar oder ein bisschen Kleingeld schenkt. Man kann sich beliebig viele Rationalisierungen zurechtlegen, aber der eigentliche Akt, die Tatsache, dass man gerade an einem Not leidenden Menschen vorbeigelaufen ist, lässt einen nicht kalt. Es bleibt immer ein kleiner Stich. Unsere Kids dagegen sind vollkommen unsichtbar. Sie verschmelzen nahtlos mit der Nacht. Sie kann man folgenlos vernachlässigen.
Musik dröhnte, irgendetwas mit einem fetten Latin-Beat. Squares reichte mir einen Stapel Telefonkarten zum Verteilen.
Wir verschwanden in eine Kaschemme an der Avenue A, die als Heroinumschlagsplatz bekannt war, und begannen unsere alte Leier abzuziehen. Wir schwatzten, wir überredeten und wir hörten zu. Ich sah die leeren Augen. Ich sah, wie sie sich kratzten, weil sie meinten, sie hätten Insekten unter der Haut. Ich sah die Einstichstellen und die tief liegenden Venen.
Um vier Uhr morgens saß ich wieder neben Squares im Bus. In den letzten paar Stunden hatten wir nicht miteinander gesprochen. Er sah aus dem Fenster. Die Kids waren immer noch da. Es wurden immer mehr, als würden sie aus den Lücken zwischen den Backsteinen herauskriechen.
»Wir müssen zur Beerdigung«, sagte Squares.
Ich traute meiner Stimme nicht genug, um etwas zu erwidern.
»Hast du sie mal hier draußen gesehen?«, fragte er. »Ihr Gesicht, wenn sie mit den Kids gearbeitet hat?«
Allerdings. Und ich wusste, was er meinte.
»Das kann man nicht vortäuschen, Will.«
»Würd ich gern glauben«, sagte ich.
»Wie hast du dich gefühlt, wenn Sheila bei dir war?«
»Ich war der glücklichste Mensch der Welt«, antwortete ich.
Er nickte. »Auch das kann man nicht vortäuschen.«
»Und wie erklärst du dir das Ganze dann?«
»Gar nicht.« Squares legte den Gang ein und fuhr auf die Straße. »Aber wir denken einfach zu
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