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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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an. Mein Herz blieb stehen.
    Der Ghost.
    Ich zuckte zusammen.
    Nora sagte: »Was ist denn?«
    »Nichts.«
    Der Ghost winkte mich zu sich. Wie in Trance stand ich auf.
    »Wo willst du hin?«
    »Ich bin gleich wieder da«, sagte ich.
    »Aber sie kommt jetzt.«
    »Ich muss nur eben zur Toilette.«
    Ich küsste Nora sanft auf den Kopf. Ihr Gesicht war besorgt. Sie schaute zum Gate hinüber, doch der Ghost war nicht mehr zu sehen. Aber ich wusste, dass er noch da war. Wenn ich einfach losging, würde er mich finden. Wenn ich ihn ignorierte, würde das das Ganze nur noch schlimmer machen. Weglaufen war zwecklos. Er würde uns letztlich finden.
    Ich musste mich ihm stellen.
    Ich ging in die Richtung, wo er gestanden hatte. Ich hatte weiche Knie, ging aber weiter. Als ich an einer langen Reihe verlassener Telefone vorbeikam, hörte ich ihn.
    »Will?«
    Ich drehte mich um, und da saß er. Er winkte. Ich ging hin und setzte mich neben ihn. Wir sahen uns nicht an, sondern aus
dem großen Fenster vor uns. Das Fenster bündelte die Sonnenstrahlen. Es war drückend heiß. Ich kniff die Augen zusammen. Er auch.
    »Ich bin nicht wegen deines Bruders hier«, sagte der Ghost, »sondern wegen Carly.«
    Bei diesen Worten versteinerte ich. Ich sagte: »Du kriegst sie nicht.«
    Er lächelte. »Du verstehst mich nicht.«
    »Dann erklär’s mir.«
    Der Ghost sah mich an. »Du willst die Menschen in Schubladen stecken, Will. Du willst die Guten hier und die Bösen da haben. Aber das stimmt so nicht. So einfach ist das nicht. Aus Liebe kann zum Beispiel Hass werden. Ich glaube, damit hat alles angefangen. Mit ganz einfacher Liebe.«
    »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
    »Dein Vater«, sagte er. »Er hat Ken zu sehr geliebt. Ich suche nach dem Keim, Will. Und da sehe ich ihn. In der Liebe deines Vaters.«
    »Ich weiß immer noch nicht, wovon du redest.«
    »Was ich dir jetzt erzähle«, fuhr der Ghost fort, »hab ich erst einem Menschen erzählt. Verstehst du?«
    Ich sagte ja.
    »Du musst an die Zeit zurückdenken, als Ken und ich in der vierten Klasse waren«, sagte er. »Ich habe Daniel Skinner nämlich nicht erstochen. Das war Ken. Aber dein Vater hat ihn so geliebt, dass er ihn beschützt hat. Er hat meinen Alten bestochen. Hat ihm fünf Riesen gezahlt. Ob du’s glaubst oder nicht, aber dein Vater ist sich dabei wie eine Art Wohltäter vorgekommen. Mein Alter hat mich die ganze Zeit verprügelt. Die meisten Nachbarn waren sowieso der Meinung, dass ich im Heim besser aufgehoben wäre. Dein Vater hat das so gesehen, dass ich entweder mit Notwehr davonkomme, oder sie stecken mich ins
Heim und ich bekomme eine Therapie und drei ordentliche Mahlzeiten am Tag.«
    Ich schwieg schockiert. Ich dachte an unser Treffen auf dem Little League -Softballfeld. Die lähmende Angst meines Vaters, sein eisiges Schweigen auf dem Rückweg, wie er zu Asselta gesagt hatte: »Wenn du jemanden willst, dann nimm mich.« Wieder passte alles auf entsetzliche Weise zusammen.
    »Ich habe nur einem Menschen je die Wahrheit gesagt«, sagte er. »Willst du raten, wem?«
    Ein weiteres Puzzleteil fiel an seinen Platz. »Julie«, sagte ich.
    Er nickte. Das erklärte einiges über ihre seltsame Verbundenheit.
    »Und wieso bist du jetzt hier?«, fragte ich. »Willst du dich an Kens Tochter rächen?«
    »Nein«, sagte der Ghost und lachte leise. »Ich weiß nicht recht, wie ich es dir sagen soll, Will, aber vielleicht kann uns die Wissenschaft helfen.«
    Er reichte mir einen Aktenhefter. Ich betrachtete ihn. »Mach ihn auf«, sagte er.
    Ich gehorchte.
    »Das ist der Obduktionsbericht der kürzlich verstorbenen Sheila Rogers«, sagte er.
    Ich runzelte die Stirn. Ich fragte ihn nicht, wo er das herhatte. Er hatte bestimmt seine Quellen. »Was soll das denn jetzt?«
    »Guck mal da.« Der Ghost tippte mit einem dünnen Finger auf einen Eintrag in der Mitte. »Siehst du das da unten? Keine Periostvernarbungen am Schambein. Nichts über helle Dehnungsstreifen an Brust und Bauchdecke. Das ist natürlich nicht ungewöhnlich. Das besagt gar nichts, wenn man nicht gerade danach sucht.«
    »Wonach sucht?«
    Er schloss die Akte. »Nach Anzeichen dafür, dass das Opfer
ein Kind zur Welt gebracht hat.« Er sah mein verdutztes Gesicht und erläuterte: »Um es ganz einfach zu sagen: Sheila Rogers kann nicht Carlys Mutter sein.«
    Ich wollte etwas sagen, doch der Ghost reichte mir eine zweite Akte. Ich las den Namen auf dem Umschlag.
    Julie Miller.
    Ich fröstelte. Er schlug sie auf und

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