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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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Blick – der Blick aus den Augen, die ich als reines Eis beschrieben habe – war auf Katy gerichtet. Er würde sie erschießen. Ohne zu zögern. Er musste nur zielen und abdrücken.
    Ich sprang auf ihn zu. Meine Hand traf seinen Arm, gerade als er abdrückte. Der Schuss löste sich, ging jedoch daneben. Ich warf mich auf meinen Bruder. Wieder rollten wir über den Boden, doch es war nicht mehr wie vorher. Jetzt nicht mehr. Er
rammte mir den Ellbogen in die Magengrube. Mir blieb die Luft weg. Er stand auf und zielte auf Katy.
    »Nein«, sagte ich.
    »Ich muss«, sagte Ken.
    Ich packte ihn. Wir rangen miteinander. Ich rief Katy zu, sie solle weglaufen. Ken gewann schnell die Oberhand. Er warf mich auf den Rücken. Unsere Blicke trafen sich.
    »Sie ist die Einzige, die noch übrig ist«, sagte er.
    »Ich lass nicht zu, dass du sie umbringst.«
    Ken hielt mir die Mündung der Waffe an die Stirn. Unsere Gesichter waren nur eine Daumenbreite voneinander entfernt. Ich hörte Melissa aufschreien. Ich rief ihr zu, sie solle nicht näher kommen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie ein Handy herausholte und wählte.
    »Na los«, sagte ich. »Drück ab.«
    »Glaubst du, ich bring das nicht?«
    »Du bist mein Bruder.«
    »Und?« Wieder musste ich über das Böse nachdenken, über die Formen, die es annimmt, und darüber, dass man sich nie in Sicherheit wiegen durfte. »Hast du Katy denn überhaupt nicht zugehört? Kapierst du nicht, wozu ich fähig bin – wie viele Menschen ich verletzt und hintergangen habe?«
    »Mich nicht«, sagte ich leise.
    Er lachte. Sein Gesicht war immer noch wenige Zentimeter über meinem, die Waffe immer noch an meiner Stirn. »Was hast du gesagt?«
    »Mich nicht«, wiederholte ich.
    Ken warf den Kopf zurück. Sein anschwellendes Gelächter hallte durch die Stille. Bei dem Klang wurde mir so eisig ums Herz wie nie zuvor. »Dich nicht?«, sagte er. Er senkte den Kopf so weit, dass sein Mund nur wenige Zentimeter von meinem Ohr entfernt war.

    »Dich«, flüsterte er, »habe ich mehr verletzt und hintergangen als alle anderen.«
    Seine Worte trafen mich wie Betonblöcke. Ich sah zu ihm auf. Sein Gesicht wurde hart, und ich war sicher, dass er abdrücken würde. Ich schloss die Augen und wartete. Um mich herum herrschte Aufruhr und Geschrei, doch das war alles weit weg. Was ich jetzt hörte – das einzige Geräusch, das wirklich zu mir durchdrang –, war Kens Weinen. Ich öffnete die Augen. Die Außenwelt verblasste. Es gab nur noch uns beide.
    Ich weiß nicht genau, was passiert ist. Vielleicht lag es daran, dass ich so hilflos auf dem Rücken lag und dass er, mein Bruder, diesmal nicht mein Retter, mein Beschützer, drohend auf mir saß und der Grund meiner Not war. Vielleicht hatte Ken mich in dieser verletzlichen Lage gesehen und ein Instinkt, etwas, das mich schon immer hatte beschützen wollen, hatte die Oberhand gewonnen. Vielleicht brachte ihn das aus der Fassung. Ich weiß es nicht. Aber als unsere Blicke sich begegneten, wurde sein Gesicht weich und verzog sich langsam.
    Und dann änderte sich wieder alles.
    Kens Griff lockerte sich, aber er drückte mir weiter die Waffe auf die Stirn. »Du musst mir was versprechen, Will«, sagte er.
    »Was?«
    »Es geht um Carly.«
    »Deine Tochter.«
    Ken schloss die Augen, und ich sah echten Kummer in seinem Gesicht.
    »Sie liebt Nora«, sagte er. »Ich möchte, dass ihr euch um sie kümmert. Zieht sie auf. Versprich mir das.«
    »Aber was ist mit …?«
    »Bitte«, flehte Ken verzweifelt. »Bitte versprich’s mir.«
    »Okay, ich verspreche es.«

    »Und versprich mir, dass du sie nie mitbringst, um mich zu besuchen.«
    »Was?«
    Er weinte jetzt heftig. Die Tränen rannen ihm über die Wangen und benetzten unsere beiden Gesichter. »Versprich es mir, verdammt. Du redest nie von mir. Du ziehst sie auf wie dein eigenes Kind. Du lässt sie nie zu mir ins Gefängnis zu Besuch kommen. Versprich mir das, Will. Versprich’s mir, oder ich schieße.«
    »Gib mir erst die Waffe«, sagte ich, »dann versprech ich’s dir.«
    Ken sah auf mich herab. Er drückte mir die Waffe in die Hand. Und dann küsste er mich heftig. Ich schlang die Arme um ihn, hielt ihn, den Mörder, ganz fest. Ich drückte ihn an mich. Er weinte an meiner Brust wie ein kleines Kind. So blieben wir liegen, bis wir die Sirenen hörten.
    Ich versuchte, ihn wegzuschieben. »Lauf«, flüsterte ich ihm flehend zu. »Bitte. Lauf weg.«
    Doch Ken rührte sich nicht. Diesmal nicht. Den genauen

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