Kein Lebenszeichen
gehört?«
Sie zuckte die Achseln.
»Da kann man in Ruhe abhängen«, sagte Squares, der versuchte, es herunterzuspielen. »Echt locker. Du kannst einfach vorbeikommen und kriegst ’ne warme Mahlzeit, ein warmes Bett, ein paar Klamotten und kannst telefonieren und so. Das Mädchen hier …«, er hielt das Foto hoch, ein Schulfoto eines weißen Mädchens mit Zahnspange, »… sie heißt Angie.« Man muss ihnen immer einen Namen geben. Es wirkt einfach persönlicher. »Sie hat bei uns gewohnt. Und an ein paar Kursen
teilgenommen. Sie ist echt witzig. Einen Job hat sie auch gehabt. Sie hat ihr Leben ganz gut in den Griff gekriegt, weißt du?«
Das Mädchen sagte nichts.
Squares streckte die Hand aus. »Die Leute nennen mich Squares«, sagte er.
Das Mädchen seufzte und ergriff seine Hand. »Ich bin Jeri.«
»Freut mich.«
»Yeah. Aber diese Angie kenn ich nicht. Und ich bin grad ziemlich beschäftigt.«
Jetzt musste man aufpassen. Wenn man sie zu sehr bedrängt, machen sie ein für alle Mal dicht. Sie verkriechen sich in ihr Loch und kommen nie wieder raus. Das Einzige, was man jetzt erreichen will – das Einzige, was man jetzt erreichen kann –, ist, einen Keim zu setzen. Man sagt ihnen, dass es eine Zuflucht für sie gibt, einen sicheren Ort, wo sie Unterkunft und etwas zu essen finden. Man gibt ihnen die Chance, der Straße für eine einzige Nacht zu entkommen. Sobald sie da sind, begegnet man ihnen mit bedingungsloser Liebe. Aber nicht jetzt. Jetzt kriegen sie höchstens Angst. Jetzt verscheucht man sie, wenn man zu sehr drängelt.
Sosehr es einen innerlich auch zerreißt, mehr kann man nicht tun.
Nur sehr wenige Menschen hielten in Squares Job lange durch. Und die wenigen, die das schafften und richtig gut machten, waren alle … ein bisschen von der Rolle. Anders ging es nicht.
Squares zögerte. Er benutzt diese Masche mit dem verschwundenen Mädchen schon seit ich ihn kenne, um das Eis zu brechen. Das Mädchen auf dem Bild, die echte Angie, war vor fünfzehn Jahren auf der Straße an Unterkühlung gestorben. Squares hatte sie hinter einem Müllbehälter gefunden. Angies
Mutter hatte ihm bei der Beerdigung das Foto gegeben. Ich glaube nicht, dass ich ihn je ohne das Bild gesehen habe.
»Okay, danke.« Squares zog eine Karte aus der Tasche und reichte sie ihr. »Rufst du mich an, wenn du sie siehst? Sonst aber auch. Jederzeit. Egal warum.«
Sie nahm die Karte und spielte damit herum. »Yeah, mal schauen.«
Squares zögerte noch kurz. Dann sagte er: »Wir seh’n uns.«
»Yeah.«
Dann taten wir das Absurdeste, was man in einer solchen Situation tun konnte. Wir gingen weg.
Raquels richtiger Name war Roscoe. Das hatte er oder sie uns wenigstens erzählt. Ich weiß nie, ob ich Raquel in der männlichen oder der weiblichen Form ansprechen soll. Wahrscheinlich sollte ich ihn/sie einfach mal fragen.
Squares und ich entdeckten den Wagen vor einer verschlossenen Liefereinfahrt. Das hatte man öfter. Die Autofenster waren beschlagen, aber wir blieben sowieso auf Distanz. Was da drin vorging – und wir konnten es uns durchaus vorstellen –, mussten wir nicht unbedingt sehen.
Kurz darauf stieg Raquel aus. Wie Sie vielleicht schon erraten haben, war Raquel ein Transvestit. Daher auch die Verwirrung in Bezug auf die Geschlechterrolle. Transsexuelle bezeichnet man mit »sie«. Bei Transvestiten ist es schon schwieriger. Manchmal sagt man »sie«. Manchmal ist das einfach einen Hauch zu politisch korrekt. So vermutlich auch bei Raquel.
Raquel wälzte sich aus dem Wagen, griff in die Handtasche und holte das Mundspray heraus. Drei Stöße, Pause, kurzes Überlegen, dann noch mal drei Stöße. Der Wagen fuhr los. Raquel drehte sich zu uns um.
Viele Transvestiten sind schön. Raquel nicht. Er war schwarz, fast zwei Meter groß und wog deutlich über hundertfünfzig Kilogramm. Er hatte Bizepse wie ganze Schweine, die sich in Wurstpellen balgten, und sein Dreitagebart erinnerte mich an Homer Simpson. Seine Stimme war so hoch, dass Michael Jackson dagegen wie der Sprecher einer Fernfahrervereinigung klang – Betty Boop, nachdem sie Helium eingeatmet hatte.
Raquel behauptete, neunundzwanzig zu sein, doch das tat er schon seit mindestens sechs Jahren. So lange kannte ich ihn schon. Er arbeitete fünf Nächte die Woche, egal ob es regnete oder die Sonne schien, und hatte eine ziemlich treue Anhängerschaft. Er hätte der Straße den Rücken kehren können, wenn er gewollt hätte, sich ein Domizil suchen
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