Kein Lebenszeichen
oder Hausbesuche machen. Aber Raquel gefiel es so, wie es war. Das begreifen viele nicht – die Straße ist zwar dunkel und gefährlich, aber sie ist auch berauschend. Die Nacht ist voller Energie, voller Spannung. Auf der Straße fühlt man sich dauernd unter Strom. Manche unserer Kids hatten nur die Wahl zwischen einem Hilfsjob bei McDonald’s oder der Faszination der Nacht – und wenn man keine Zukunft hat, ist das keine Wahl.
Raquel sah uns und schwankte auf Pfennigabsätzen auf uns zu. Herrenschuhgröße neunundvierzig. Keine leichte Aufgabe, das kann ich Ihnen versichern. Er blieb unter einer Straßenlaterne stehen. Sein Gesicht wirkte abgenutzt wie ein Fels am Meer, der jahrtausendelang Wellen und Stürmen getrotzt hatte. Ich wusste nicht, woher er kam. Er log häufig. Eine Legende besagte, er sei ein erfolgreicher Football-Profi gewesen, der sich schwer am Knie verletzt hatte. Ich hatte aber auch gehört, wie er erzählte, dass er aufgrund seiner herausragenden Ergebnisse im SAT-Test ein College-Stipendium bekommen hatte. Andere meinten, er wäre ein Golfkriegsveteran. Nehmen Sie eine der drei Geschichten oder denken Sie sich eine eigene aus.
Raquel begrüßte Squares mit einer Umarmung und einem Wangenkuss. Dann wandte er sich mir zu.
»Du bist so niedlich, mein kleiner Willy«, sagte Raquel.
»Danke für das Kompliment, Raquel«, sagte ich.
»So appetitlich, dass ich dich glatt vernaschen könnte.«
»Ich bin im Fitness-Studio gewesen«, sagte ich. »Dadurch bin ich noch leckerer geworden.«
Raquel legte mir einen Arm um die Schultern. »In einen Mann wie dich könnt ich mich glatt verlieben.«
»Ich fühle mich sehr geschmeichelt, Raquel.«
»Ein Mann wie du könnte mich hier rausholen.«
»Ja, aber denk doch mal an die ganzen gebrochenen Herzen, die du hier zurücklassen würdest.«
Raquel gluckste. »Das stimmt.«
Ich zeigte Raquel ein Foto von Sheila. Das einzige, das ich hatte. Eigenartig, wenn ich jetzt so darüber nachdachte. Wir waren beide keine großen Fotografen, aber dass ich nur ein einziges Bild hatte …?
»Erkennst du sie?«, fragte ich ihn.
Raquel betrachtete das Bild. »Deine Frau«, sagte er. »Ich hab sie mal im Asyl gesehen.«
»Stimmt. Ist sie dir sonst schon mal begegnet?«
»Nein. Warum?«
Wir hatten keinen Grund, ihn zu belügen. »Sie ist abgehauen. Ich suche sie.«
Raquel besah sich das Bild aufs Neue. »Kann ich das Foto behalten?«
Ich hatte im Büro mehrere Farbkopien gemacht, deshalb reichte ich ihm das Bild.
»Ich hör mich um«, versprach Raquel.
»Danke.«
Er nickte.
»Raquel?« Squares schaltete sich ein. Raquel sah ihn an. »Kannst du dich noch an einen Zuhälter namens Louis Castman erinnern?«
Raquels Gesichtszüge erschlafften. Er sah sich um.
»Raquel?«
»Ich muss wieder an die Arbeit, Squares. Das Geschäft ruft, du weißt schon.«
Ich trat ihm in den Weg. Er sah auf mich herab wie auf ein paar Schuppen, die er sich von der Schulter wischen musste.
»Sie ist auf den Strich gegangen«, sagte ich zu ihm.
»Dein Mädchen?«
»Ja.«
»Und sie hat für Castman gearbeitet?«
»Ja.«
Raquel bekreuzigte sich. »Ein böser Mann, mein kleiner Willy. Castman war der Schlimmste.«
»Wieso?«
Er fuhr mit der Zunge über seine Lippen. »Die Mädels hier sind nur Gebrauchsartikel, verstehst du? Handelsware. Bei den meisten hier geht’s nur ums Geschäft. Wenn sie Geld einbringen, können sie bleiben. Wenn nicht, na ja, du weißt schon.«
Das tat ich.
»Aber Castman …«, Raquel flüsterte, als traute er sich nicht, den Namen laut auszusprechen, so wie manche Leute das Wort Krebs kaum herausbrachten, »… war anders.«
»Wie?«
»Der hat seine eigene Ware kaputtgemacht. Manchmal bloß aus Spaß.«
Squares sagte: »Das klingt, als wäre das vorbei.«
»Das kommt, weil ihn lange keiner mehr gesehen hat. Seit, äh, drei Jahren oder so.«
»Lebt er noch?«
Raquel wurde ganz still. Er sah zur Seite. Squares und ich sahen uns an.
»Ja, er lebt noch«, sagte Raquel. »Glaub ich wenigstens.«
»Was heißt das?«
Raquel schüttelte nur den Kopf.
»Wir müssen mit ihm sprechen«, sagte ich. »Weißt du, wo wir ihn finden?«
»Ich hab nur Gerüchte gehört.«
»Was für Gerüchte?«
Wieder schüttelte Raquel den Kopf. »Seht euch mal den Laden Ecke Wright Street und Avenue D in der South Bronx an. Ich hab gehört, dass er da sein soll.«
Dann ging Raquel, stöckelte jetzt etwas gerader davon. Ein Wagen fuhr vor, hielt, und wieder
Weitere Kostenlose Bücher