Kein Lebenszeichen
in einem Hauseingang. Ich sah sie an. Die beiden waren höchstens sechzehn, und ihre Gesichter waren bemalt wie die von kleinen Mädchen, die Mamis Schminkkoffer gefunden hatten. Das Herz wurde mir schwer. Sie trugen ultrakurze Shorts, Stiefel mit Stöckelabsätzen und Kunstpelz-Stolas. Ich fragte mich oft, wo man ein solches Outfit herbekam, ob die Zuhälter irgendwo Spezialgeschäfte für Hurenausstattung hatten oder so.
»Frischfleisch«, meinte Candi.
Squares nickte mit gerunzelter Stirn. Viele unserer besten Tipps stammen von Veteranen. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens – die zynische Variante – entledigt man sich starker Konkurrenz, indem man die Neulinge aus dem Geschäft drängt. Das Leben auf der Straße macht einen schnell unansehnlich. So war Candi zum Beispiel potthässlich. Man altert hier schneller als in einem schwarzen Loch. Die neuen Mädchen fallen da auf, selbst wenn sie anfangs gezwungen sind, sich in den Hauseingängen herumzudrücken.
Doch ich glaube, diese Deutung ist hartherzig. Der zweite, wichtigere Grund ist der – und jetzt halten Sie mich bitte nicht für naiv –, dass die Kids helfen wollen. Sie blicken auf ihr eigenes Leben zurück und erinnern sich, wie sie am Scheideweg gestanden haben. Und selbst wenn sie nicht zugeben wollen, dass sie die falsche Wahl getroffen haben, ist vielen doch klar, dass es für sie selbst zu spät ist. Sie können nicht mehr zurück. Ich habe früher mit den Candis dieser Welt gestritten. Ich habe ihnen zugeredet, dass es nie zu spät ist, umzukehren. Ich hatte Unrecht. Auch deshalb müssen wir möglichst schnell an die Kids herankommen. Wenn sie einen bestimmten Punkt überschritten haben,
sind sie nicht mehr zu retten. Der Schaden ist irreparabel. Die Straße frisst ihre Kinder. Sie schwinden dahin. Sie werden ein Teil der Nacht, verschmelzen mit ihr zu einer einzigen, dunklen Einheit. Dann sind sie für uns verloren. Viele sterben direkt vor Ort, einige verschwinden im Gefängnis, manche werden verrückt.
»Wo ist Raquel?«, fragte Squares.
»Macht ’ne Autonummer«, sagte Candi.
»Kommt sie noch mal her?«
»Klar.«
Squares nickte und wandte sich den beiden neuen Mädchen zu. Eine beugte sich schon in einen Buick Regal. Sie können sich nicht vorstellen, wie frustrierend das ist. Man will einschreiten. Man will das Mädchen wegreißen, den Freier an der Kehle packen und ihm die Lunge aus dem Leib reißen. Zumindest will man ihn verjagen oder ein Foto machen oder … irgendetwas. Aber man tut nichts dergleichen. Wenn man so etwas tut, trauen sie einem nicht mehr. Und wenn sie einem nicht mehr trauen, hat man hier nichts mehr zu melden.
Es war schwer, untätig zuzusehen. Zum Glück bin ich weder sonderlich mutig noch kämpferisch. Vielleicht macht es das leichter.
Die Beifahrertür wurde geöffnet. Der Buick Regal schien das Mädchen zu verschlingen. Sie verschwand, versank in der Dunkelheit. Ich sah einfach zu; ich glaube, ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt. Ich sah Squares an. Er beobachtete den Buick. Der fuhr los. Das Mädchen war verschwunden, als wäre es nie hier gewesen. Wenn der Wagen nicht zurückkam, würde niemand nach ihr fragen.
Squares ging auf das andere neue Mädchen zu. Ich folgte mit ein paar Schritten Abstand. Die Unterlippe des Mädchens zitterte, als müsse sie die Tränen zurückhalten, doch in ihren Augen
lag ein trotziges Blitzen. Ich wollte sie in den Bus zerren – wenn nötig, mit Gewalt. Ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist Selbstbeherrschung. Deshalb war Squares so gut. Er blieb etwa einen Meter vor ihr stehen, um sie nicht zu bedrängen.
»Hi«, sagte er.
Sie musterte ihn und murmelte: »Hey.«
»Ich dachte, du kannst mir vielleicht helfen.« Squares trat noch einen Schritt an sie heran und zog ein Foto aus der Tasche. »Hast du die hier gesehen?«
Das Mädchen beachtete das Foto nicht. »Ich hab niemand gesehen.«
»Bitte«, sagte Squares mit fast schon engelsgleichem Lächeln. »Ich bin kein Bulle.«
Sie versuchte, auf hart zu machen. »Hab ich mir schon gedacht«, meinte sie. »Wie Sie mit Candi geredet haben und so.«
Squares trat noch etwas näher. »Wir, also mein Freund und ich«, ich winkte aufs Stichwort und lächelte, »wir wollen dieses Mädchen retten.«
Neugierig kniff sie die Augen zusammen. »Wieso retten?«
»Ein paar finstere Typen sind hinter ihr her.«
»Wer?«
»Ihr Zuhälter. Weißt du, wir arbeiten für Covenant House. Hast du schon mal von uns
Weitere Kostenlose Bücher