Kein Lebenszeichen
ich.
Sie schritt – Wanda bewegte sich so elegant, dass man es nicht als Gehen bezeichnen konnte – den Flur entlang. Ich folgte ihr, die Augen auf der Höhe ihres schlanken Nackens. Wir kamen an einem so großen und reich verzierten Brunnen vorbei, dass ich schon einen Penny hineinwerfen wollte. Ich warf einen Blick in eins der Studios. Bis auf die schweren Atemgeräusche herrschte absolute Stille. Es sah aus wie in einem Film. Wunderschöne Menschen – ich weiß nicht, wo Squares all die schönen Menschen herbekam – saßen eng gedrängt Seite an Seite in Kriegerposen, mit gleichmütig leeren Gesichtern, die Hände ausgebreitet und die Knie in einem 90°-Winkel.
Wandas und Squares’ gemeinsames Büro lag rechts vom Flur. Sie ließ sich auf einem Stuhl nieder, als wäre er aus Schaumstoff, und kreuzte die Beine zum Lotussitz. Ich setzte mich ihr ganz
normal gegenüber. Erst schwieg sie kurz. Sie hatte die Augen geschlossen und versuchte, sich zu entspannen. Ich wartete.
»Ich hab dir noch nichts davon erzählt«, sagte sie.
»Okay.«
»Ich bin schwanger.«
»Hey, das ist ja fantastisch.« Ich wollte aufstehen und sie mit einer Umarmung beglückwünschen.
»Squares kommt damit nicht gut klar.«
Ich blieb sitzen. »Wie meinst du das?«
»Er tickt aus.«
»Wieso?«
»Du hast nichts davon gewusst, oder?«
»Stimmt.«
»Er erzählt dir alles, Will. Er weiß es seit einer Woche.« Ich verstand, was sie meinte.
»Wahrscheinlich wollte er nichts sagen«, meinte ich, »wegen meiner Mutter und so.«
Sie warf mir einen durchdringenden Blick zu und sagte: »Lass das.«
»Ja, ’tschuldigung.«
Sie wandte den Blick ab. Die glatte, kühle Fassade hatte Risse bekommen. »Ich dachte, er würde sich freuen.«
»Und das tut er nicht?«
»Ich glaube, er möchte, dass ich es …«, ihr schienen die Worte zu fehlen, »… wegmache.«
Das hätte mich fast umgehauen. »Das hat er gesagt?«
»Er hat gar nichts gesagt. Er fährt Extraschichten im Bus. Und er gibt mehr Kurse.«
»Er geht dir aus dem Weg.«
»Ja.«
Ohne Klopfen wurde die Bürotür geöffnet. Squares steckte seine unrasierte Visage durch den Spalt. Er lächelte Wanda
flüchtig zu. Sie wandte sich ab. Squares streckte mir den erhobenen Daumen entgegen. »Lassen wir’s krachen.«
Wir schwiegen, bis wir in der sicheren Abgeschiedenheit des Busses angekommen waren.
Squares begann: »Sie hat’s dir gesagt.«
Es war ein Statement, keine Frage, also sparte ich mir die Antwort.
Er steckte den Schlüssel in die Zündung. »Kein Wort darüber«, sagte er.
Noch so ein Statement, das keiner Antwort bedurfte.
Der Covenant-House-Bus fährt direkt in die Eingeweide der Großstadt. Viele unserer Jugendlichen kommen zu uns an die Tür. Viele andere werden in diesem Bus gerettet. Die Arbeit der Streetworker besteht darin, eine Verbindung zwischen der Einrichtung und den dreckigen Schattenseiten der Metropole zu schaffen – sie sollen auf die jugendlichen Ausreißer zugehen, auf die Straßenkinder, auf diejenigen, die man oft als Abschaum der Gesellschaft betrachtet. Ein Jugendlicher, der auf der Straße lebt, ist so etwas Ähnliches wie – bitte entschuldigen Sie den Vergleich – Unkraut. Je länger er auf der Straße lebt, desto schwieriger wird es, ihn mitsamt der Wurzel auszureißen.
Wir verlieren viele dieser Kids. Mehr als wir retten. Und vergessen Sie den Unkraut-Vergleich. Er ist dumm, weil er unterstellt, dass wir etwas Schlechtes loswerden und etwas Gutes bewahren. Eigentlich passiert genau das Gegenteil. Sagen wir besser so: Die Straße ist wie Krebs. Früherkennung und Prävention sind der Schlüssel zu einem langen Leben.
Auch nicht viel besser, aber Sie verstehen schon, was ich meine.
»Das FBI hat übertrieben«, sagte Squares.
»Inwiefern?«
»Sheilas Vorstrafen.«
»Und weiter?«
»Die Festnahmen. Ist alles lange her. Soll ich’s dir erzählen?«
»Ja.«
Wir kamen in die finsteren Gegenden. Der Straßenstrich der Stadt war immer in Bewegung. Am Lincoln-Tunnel und am Javis Center sind die Huren häufig zu finden; in letzter Zeit haben die Bullen da allerdings ziemlich hart durchgegriffen. Weitere Säuberungsaktionen. Die Nutten sind dann nach Süden in den Meatpacking-District an der 18th Street und in die hintere West Side ausgewichen. Heute waren sie in Massen auf der Straße.
Squares nickte in ihre Richtung. »Jede von denen hätte Sheila sein können.«
»Sie war auf dem Straßenstrich?«
»Eine Ausreißerin aus
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