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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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spät.
    Ich dachte, es müsste jemand aus der Familie gewesen sein. Das war falsch.
    Ich drückte die Play-Taste und eine junge Frau sagte: »Hi, Will.«
    Ich erkannte die Stimme nicht.
    »Hier ist Katy. Katy Miller.«
    Ich erstarrte.
    »Lange her, was? Äh, hör mal, tut mir Leid, dass ich so spät noch anrufe. Du schläfst wahrscheinlich schon. Na ja. Sag mal, Will, kannst du mich anrufen, sobald du das abhörst? Ganz egal, wie spät es dann ist. Ich muss einfach, na ja, ich muss mit dir über was reden.«
    Dann nannte sie ihre Telefonnummer. Ich war perplex. Katy Miller. Julies kleine Schwester. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, musste sie sechs gewesen sein oder so. Ich lächelte, erinnerte mich an früher – oje, Katy konnte höchstens vier gewesen sein, als sie sich damals hinter dem Schrankkoffer ihres Vaters versteckt hatte und in einem äußerst ungelegenen Moment hervorgesprungen war. Julie und ich hatten uns hastig eine Decke übergeworfen – Zeit, die Hosen hochzuziehen, war nicht – und hatten uns vor Lachen kaum halten können.
    Die kleine Katy Miller.

    Sie musste jetzt siebzehn oder achtzehn sein. Komisch, wenn man so darüber nachdachte. Ich wusste, welche Auswirkungen Julies Tod auf meine Familie gehabt hatte, und konnte mir auch halbwegs vorstellen, wie es Mr und Mrs Miller ergangen war. Doch ich hatte eigentlich nie darüber nachgedacht, wie die kleine Katy das erlebt hatte. Wieder dachte ich daran, wie Julie und ich kichernd die Decke über uns gezogen hatten, und jetzt fiel mir auch wieder ein, dass das damals im Keller passiert war. Wir hatten auf genau der Couch rumgemacht, auf der Julies Leiche gefunden worden war.
    Warum rief Katy mich nach so langer Zeit an?
    Vielleicht wollte sie mir nur ihr Beileid aussprechen, dachte ich, obwohl mir das etwas seltsam vorkam, insbesondere zu nachtschlafender Zeit. Ich hörte die Nachricht noch einmal ab, suchte nach versteckten Hinweisen, fand jedoch keine. Ich sollte sie jederzeit anrufen. Aber es war vier Uhr morgens und ich war müde. Egal was es war, es hatte bis morgen Zeit.
    Ich legte mich ins Bett und dachte an meine letzte Begegnung mit Katy Miller. Meine Familie war gebeten worden, nicht zur Beerdigung zu kommen. Wir hatten der Bitte entsprochen. Aber zwei Tage später war ich alleine zum Friedhof an der Route 22 gefahren. Ich setzte mich an Julies Grabstein. Ich sagte nichts. Ich weinte nicht. Ich fand weder Trost, noch hatte ich das Gefühl, mit Julie abgeschlossen zu haben. Dann war Familie Miller in ihrem weißen Oldsmobile Cierra vorgefahren, und ich hatte mich verdrückt. Und dabei der kleinen Katy in die Augen gesehen. Ihre Miene wirkte seltsam resigniert, in ihr lag ein Wissen, das weit über das hinausging, was man von einem Kind ihres Alters erwarten konnte. Ich sah Trauer und Entsetzen, und vielleicht sah ich auch so etwas wie Mitleid.
    Damals, auf dem Friedhof, war ich einfach weggegangen. Seitdem hatte ich Katy nicht mehr gesehen oder mit ihr gesprochen.

12
    Belmont, Nebraska
     
    Sheriff Bertha Farrow hatte schon Schlimmeres gesehen.
    Mord-Tatorte waren übel, aber was gebrochene Knochen, zertrümmerte Schädel und Übelkeit erregende Blutspritzer betraf, war ein Autounfall kaum zu überbieten. Ein Frontalzusammenstoß. Ein LKW, der auf die Gegenfahrbahn geraten war. Ein Baum, der den Wagen von der Stoßstange bis zum Rücksitz teilt. Ein Salto über die Leitplanke bei Höchstgeschwindigkeit.
    Das waren echte Sauereien.
    Trotzdem war der Anblick dieser toten Frau an einem Tatort, an dem fast kein Blut zu sehen war, irgendwie viel schlimmer. Bertha Farrow sah das Gesicht der Toten – ihre Züge waren angstverzerrt, fassungslos, vielleicht verzweifelt – und erkannte, dass die Frau unter großen Qualen gestorben war. Sie sah die gebrochenen Finger, den deformierten Brustkorb, die Blutergüsse, und sie wusste, dass dies ihr von einem anderen Menschen zugefügt worden war, dass hier nicht Stahl, sondern Fleisch auf Fleisch getroffen war. Das war nicht die Folge eines vereisten Straßenstücks oder eines Senderwechsels im Radio bei Tempo hundertdreißig, einer verspäteten LKW-Ladung, von Alkohol am Steuer oder überhöhter Geschwindigkeit.
    Das war Absicht gewesen.
    »Wer hat sie gefunden?«, fragte sie ihren Hilfssheriff George Volker.
    »Die Randolph-Jungs.«
    »Welche?«
    »Jerry und Ron.«
    Bertha rechnete nach. Jerry musste ungefähr sechzehn sein. Ron vierzehn.

    »Sie waren mit Gypsy spazieren«, erläuterte

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